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# taz.de -- Venezuelas Vorzeigedorf: Nur die Kirschen kommen aus dem Glas
> Fernab von Kriminalität, Armut und Inflation präsentiert sich die
> Schwarzwaldkolonie Tovar in Venezuelas Dschungel. Das Deutschtum ist hier
> geschichts- und geschäftsträchtiges Touristenspektakel
Bild: Blick von oben auf Tovar mit Kirchturm und Fachwerkhäusern zwischen Mang…
Drei Gläser von eurem Bier, und ich schwebe schon auf Wolke sieben",
schwärmt Jesus, der Tourist aus Caracas, zufrieden. Zu Recht. Zumindest der
nach deutschem Reinheitsgebot gebraute Gerstensaft kommt dem Original aus
dem Mutterland geschmacklich sehr nahe. Wenn es auch nicht kommerzialisiert
wurde: Es war das erste Bier in Venezuela. "Da kann unser Polar
[Nationalbier aus Venezuela, Anm. d. Red.] nicht mithalten!", meint Jesus.
Am Nebentisch posiert derweil die große, blauäugige Kellnerin für Fotos.
Kitschige Erinnerungen an den Besuch in "Deutschland", die später die noch
kitschigeren Wohnungen der Wochenendtouristen aus der venezolanischen
Hauptstadt Caracas zieren werden. Jesus Augen glänzen, als die hellhäutige
Kellnerin das blonde Haar zurückwirft. Ihr Dirndl sitzt straff, der
Ausschnitt ist tief. Einzig das Spanisch passt nicht zur germanischen
Statur. "Sind in Deutschland alle Frauen so hübsch?", fragt Jesus.
## Bienvenidos in der Colonia Tovar
Rund 400 Auswanderer aus Endingen am Kaiserstuhl verließen 1842 aus
wirtschaftlichen und politischen Gründen Deutschland. Während das
Großherzogtum Baden von Missernten, Armut und Arbeitslosigkeit heimgesucht
wurde, ließ der Gedanke an Freiheit und Demokratie den Traum von einem
neuen Leben auferstehen. Hinzu kamen vertragliche Versprechungen auf
Grundstück, Wohnung und Vieh sowie ein hohes Einkommen samt
Steuerbefreiung. Ausgewählte Fachkräfte wie Maurer, Tischler, Schlosser,
Metzger und Braumeister landeten nach 61 strapaziösen Tagen Überfahrt an
der venezolanischen Karibikküste. Der Atlantiküberquerung folgte eine
einmonatige Quarantänezeit am Strand, ehe die Auswanderer endlich ihr Ziel
erreichten. Im Araguatal errichteten sie eine "Mustersiedlung" - isoliert
vom restlichen Venezuela.
Voller Erwartungen wurden die Siedler anfangs jedoch enttäuscht. Das
vorgesehene Anbaufeld war brandgerodet, Behausungen nicht vorhanden, und
der nächstgelegene Ort war weit entfernt. Interne Konflikte mit der
patriarchalischen Herrschaftsstruktur wegen nicht eingehaltener
Vertragsbedingungen drohten den Traum der Siedlung wieder platzen zu
lassen. Dennoch siegten deutsche Tugend und Arbeitswille. Die fleißige
Siedlergruppe verwandelte die Kolonie zielstrebig in fruchtbares Land.
Sechs Generationen später leben über 2.000 Menschen im historischen
Stadtzentrum der Kolonie. Das umliegende Land beherbergt rund 16.000
Bewohner.
## Beliebtes Wochenendziel venezolanischer Städter
Während jedes Wochenende mindestens fünfzig Menschen in Caracas, der
gefährlichsten Stadt Südamerikas, ihr Leben lassen müssen, gilt Colonia
Tovar als sicheres Wochenendziel. Jesus kommt zweimal jährlich in das
konservierte deutsche Dorf. "Ich genieße das angenehme Klima, die Ruhe und
die klare Bergluft hier oben. Außerdem mag ich das deutsche Essen, das Bier
und die Frauen."
Beinahe im Konvoi erfolgt die Anfahrt der einheimischen Touristen, die den
Großteil der Besucher ausmachen. Für den internationalen Tourismus ist
Tovar uninteressant. Da hat Venezuela als Land der Vielfalt weit mehr zu
bieten. Die serpentinenreichen Straßen ins bergige Hochland der
Millionenmetropole Caracas sind gut. Dennoch benötigt man mehrere Stunden
für die zirka 60 Kilometer lange Zeitreise, ehe man das Stadttor der
ehemaligen deutschen Exklave erreicht. Der Andrang ist zu groß, der Verkehr
zu stockend. Polizei und Militär bewachen den Eingang ins Wunderland. Nebel
sorgt trotz Sonnenschein für kühle Temperaturen. Zwei Uhren zieren das
mächtige Tor, eine für Venezuela, eine für Deutschland.
## Bollenhüte und weiße Rüschenblusen
Ein Bach plätschert gemächlich durchs grüne Tal. Auf den bewaldeten
Steilhängen wuchern zwischen kleinen roten Ziegeldächern dichte Obstbäume
und Sträucher. Hin und wieder schmuggeln sich Palmen oder Mangobäume
dazwischen. Weiße Häuser mit braunem Fachwerk ruhen auf terrassenförmigen
Ebenen. Ein spitzer Kirchturm ragt aus dem Urwald - er strahlt Ruhe und
Frieden aus. Buntes Kirchenglas reflektiert das Sonnenlicht in schimmernden
Farben. Am Hauptplatz vor der Dorfkirche versammeln sich einige Bewohner in
dunkelfarbenen Trachten, Bollenhüten und weißen Rüschenblusen. Kleine Jungs
in Krachledernen und Landmodehüten spielen an weißen Gartenzäunen und
toppen damit die Idylle.
Das Pilotprojekt "Tovar" entstand aufgrund der Initiative des italienischen
Geografen Agustín Codazzi, der im Auftrag der venezolanischen Regierung
arbeitete. Die junge venezolanische Nation sollte nach der Unabhängigkeit
1831 die darniederliegende Landwirtschaft durch ausländische
Ackerbaukolonien wiederherstellen. Überfahrt und Unterhalt sollten durch
Arbeit und Erzeugnisse abbezahlt werden. Unterstützt wurde der "logistische
Vater" von dem deutschen Kartografen Alexander Benitz. Der spätere
Kolonieleiter half Coronel Codazzi bei der Anwerbung und Auswahl
potenzieller Gefolgsleute. Als Namensgeber der Siedlung fungierte der
venezolanische Graf Don Martín Tovar y Ponte, der das Land zinsfrei zur
Verfügung stellte. Zehn Jahre nach ihrer Ankunft wurde den Siedlern in
einer großzügigen Geste das Land geschenkt.
## Die Technoversion von"Heidi" versteht keiner
Jesus verlässt die Bar und schlendert gemütlich den schmalen Gehsteig
entlang. Ein kurzer Besuch bei der Bäckerei, um Brot zu kaufen, in der
Metzgerei, um deutsche Würste zu holen, und am Souvenirstand, um exotische
Erinnerungen wie Dirndl, Lebkuchen, Kölsch und CDs mit venezolanischer und
coloniero-deutschen Liedern zu ersteigern. Ein alter
Unimog-Militärlastwagen rattert vorbei. Zeit für die tägliche
Touristenrundfahrt durch die Kolonie. Vorbei an "Delicatesses Alt Wien",
"Restaurant Kaiserstuhl" und "Café Viena" gelangt Jesus ins Hotel "Selva
Negra" (spanisch für Schwarzwald), einem der ältesten Häuser der Kolonie.
Ein antiker Heuwagen ruht im Garten des Fachwerkhauses. Bunte Geranien
schmücken die Zimmerbalkone. In der Stube hängen rostige Geräte,
Hirschgeweihe und vergilbte Erinnerungsstücke aus der Frühzeit der Kolonie
an der Wand. Aus den Lautsprechern dröhnt überlaut "Anton aus Tirol",
gefolgt von einer "Heidi"-Technoversion. Die Texte versteht kaum jemand,
und dass der eine aus Österreich und die andere aus der Schweiz kommt,
interessiert hier sowieso niemanden. "Lustig, eure Musik. Wir hören sonst
nur bachata und reguetón", meint Jesus. Der Biedermeiertisch wird von einem
blauweißen Plastiktischtuch verdeckt.
Nur noch von ein paar älteren Bewohnern der Kolonie Alemán Coloniero hört
man den südbadischen Dialekt. Jesus bestellt Gulaschsuppe, Stelze mit
Bratkartoffeln und Sauerkraut und als Dessert Apfelstrudel, alles
hausgemacht und nach altem Familienrezept hergestellt. Ronald Gutmann, der
Geschäftsführer des Hotels, serviert persönlich. Er hat in Deutschland
kochen gelernt. Rund einhundert Jahre lang lebte die Gemeinschaft
bescheiden im Exil als "Staat im Staat" abgeschottet, autark und autonom
vom Rest der Welt nach strenger deutscher Kultur: eigene Kirche, eigene
Schule, eigene Brauerei, eigene Kleidung, eigene Lebensmittel, eigene
Regeln. Heiraten durften nur innerhalb der Tovarer erfolgen. Auch wenn
Spanisch unterrichtet wurde, um mit den umliegenden haciendas kommunizieren
zu können, kam als Sprache nur der alemannische Dialekt infrage.
## Integration wegen Hitler-Deutschland
Eine neue Epoche begann erst 1942, als die Siedlung zum Municipio Tovar
erklärt wurde und damit unter venezolanische Administration gelangte. Die
Pflege deutschen kulturellen Erbes und die eigenen "Koloniegesetze" konnten
bis zum Zweiten Weltkrieg erhalten werden, ehe Venezuela Hitler-Deutschland
den Krieg erklärte und somit Deutsch verboten wurde.
Seitdem ist Spanisch die Amtssprache, und die Bewohner haben sich mit
Venezolanern verheiratet. Heute sind die Deutschen weit in der Unterzahl.
"Aber jede Familie ist deutsch - zumindest im wirtschaftlichen Sinn",
erzählt Ronald Gutmann. Erst mit der 1963 errichteten Asphaltstraße wurde
die Kolonie mit der Hauptstadt verbunden. Das darauf folgende
Regierungsdekret, die deutsche Siedlung zur "zona turística" zu erklären,
bedeutete das Ende der Isolation, aber auch wirtschaftlichen Aufschwung.
Immobilienspekulanten kauften Grundstücke im Araguatal, um Ferienhäuser zu
errichten, und Touristen strömten nach "Little Germany".
Was einmal Brauch und Tradition war, ist - zum Erhalt der eigenen Identität
- mittlerweile reines Touristenspektakel. "Wenn wir unsere Identität
verlieren, verlieren wir alles, inklusive die Touristen", meint Gutmann.
Die Tovarer leben aufgrund der Selbstvermarktung einen der höchsten
Lebensstandards in Venezuela. In einem eigenen Universitätsausleger können
landwirtschaftliche und touristische Studiengänge besucht werden.
"Arbeitslosigkeit", grinst der Geschäftsführer, "das ist bei uns ein
Fremdwort. Aber auch der Tovarer ist schon venezolanisiert. Sie sind
unpünktlich, aber sie kommen", fügt er hinzu. Im kontrastreichen Vergleich
zum Rest des Landes mag Tovar sauber und ordentlich sein, aber auch das
Vorzeigedorf kämpft regelmäßig mit Wasser- und Stromausfällen.
Während das Agrarland Venezuela seine eigenen Bedürfnisse nicht decken kann
und Reis aus China sowie Milchprodukte und Fleisch aus Brasilien
importieren muss, entwickelt sich die Kolonie immer mehr zum Lieferanten
von hausgemachten Produkten. "Bei uns kommen nur die Kirschen aus dem Glas,
alles andere ist Eigenanbau", versichert Gutmann stolz. Vor allem nach
Caracas und Maracay, vereinzelt aber auch ins restliche Venezuela werden
tonnenweise Obst, Gemüse, Fleisch, Kaffee, Alkohol und Backwaren
"exportiert".
## Die Kolonie Tovar liefert beste Qualität
"Wir machen hier Qualitätsprodukte. Tovar ist mittlerweile zu einer Marke
geworden." Seit in den 20er Jahren Erdöl entdeckt wurde, liegen viele
nutzbare Landstriche in Venezuela brach, da sich nie jemand darum gekümmert
hat. "Wir haben die Möglichkeit, das Beste aus unserem Land herauszuholen.
Nicht so wie im restlichen Venezuela", so Gutmann. Kein Wunder in einem
Land, wo ein Liter Benzin fünfmal weniger kostet als ein Liter Wasser.
"Unter der Woche arbeitet jeder von uns im Feld. Wir leben von dem, was wir
selbst anbauen. Väter ernten, und die Kinder liefern die Produkte aus",
erzählt Gutmann. "Wir sind stolz auf alles, was wir hier aufgebaut haben",
sagt er, "aber die Versorgungslage im Land ist schlecht. Unser größtes
Problem ist die Anreise. Wir haben noch nicht einmal einen eigenen
Busterminal. Die Isolation mag gewisse kulturelle Eigenheiten erhalten
haben, aber sie ist auch ein Nachteil."
## Gute Geschäfte, wenig Perspektive
Die heutige Verbindung zwischen der Kolonie und Deutschland ist
zwiegespalten. Seit der Öffnung der Kolonie gibt es zwar wieder einen
Austausch mit dem Kaiserstuhl, aber junge Tovarer interessieren sich immer
weniger für ihre Vorfahren. Die Mehrheit der nachfolgenden Generation hat
nie einen Fuß nach Deutschland gesetzt. Das wird zum Problem, denn nicht
nur die Schwarzwälder Kirschtorte schmeckt im Original anders. Es gibt
wenig Perspektive in Tovar.
Die Freizeitbeschäftigungen sind minimal, Alkoholmissbrauch ist eine
Gefahr, Auswandern wieder ein großes Thema. Nach Deutschland zu fahren
findet die Jugend "cool", aber nicht aus nostalgischen Gründen, sondern um
zu lernen, ein Praktikum zu absolvieren oder einen Job zu finden. Ein
Berufsausbildungsprogramm für junge Tovarer in Deutschland soll zu
stärkerer Vernetzung führen sowie Sprache und Kultur fördern.
26 Aug 2011
## AUTOREN
Martin Zinggl
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