# taz.de -- Grusel-Casting in Kiel: Untotes Leben gesucht | |
> Das Kieler Grusellabyrinth schickt seine Besucher nicht nur durch | |
> verworrene Gänge, sondern präsentiert ihnen auch live gespielte | |
> Theaterszenen. Um neue Gruselmonster zu finden, veranstaltet es jedes | |
> Jahr ein Casting. Ein Selbstversuch. | |
Bild: So sah das Ergebnis nach einem der vergangenen Castings aus. | |
KIEL taz | Da, wo früher der Kieler Güterbahnhof rumorte, skaten heute | |
Jugendliche zwischen Dehner Gartencenter, Hornbach und Hallo Pizza-Shop. | |
Aus dem Güterbahnhofsgelände ist das Gewerbegebiet Tonberg geworden und an | |
die Eisenbahnzeit erinnert nur noch die Rampe vor einer langen | |
Backsteinhalle. | |
In dieser findet das öffentliche Gruselcasting statt, zu dem Deutschlands | |
größtes Grusellabyrinth für seine neue Show "Der Fluch der Fortescue - Die | |
Legende lebt" eingeladen hat. | |
Das Labyrinth beschreibt sich selbst als "Erlebniswelt" mit interaktivem | |
Theater. Gesucht werden "neue Monster und alte Erschrecker, die die riesige | |
Attraktion mit untotem Leben erfüllen wollen". Ich sollte nicht mehr | |
mitbringen als "gute Laune und ein wenig schauspielerisches Talent". Ob ich | |
selbiges überhaupt besitze, weiß ich nicht. Dementsprechend gestaltet sich | |
an diesem Nachmittag meine Laune: Bammel vor der Blamage. Es ist mein | |
erstes Casting. | |
Ich hasse Castingshows. Ich verachte die Moderatoren, die Fans, den | |
anhaltenden Erfolg dieser Formate. Für die Küblböcks, Queensberrys, | |
Lena-Meyer-Landruts verspürte ich bisher nur Mitleid und Fremdscham. Nun | |
bin ich also auch ein Casting-Opfer geworden. Zum Glück sind hier keine | |
Kameras dabei. Einzig die Praktikantin von Radio Schleswig-Holstein sammelt | |
O-Töne. | |
Als erstes muss ich mich mit sechs anderen Kandidaten in einer Nebenhalle | |
vor der Jury aufreihen. Neben uns stapeln sich Kisten, aus denen die | |
nackten Beine zerlegter Schaufensterpuppen ragen, sich Masken und | |
Dekorationen türmen. Die Geschäftsführer und Geschwister Holger und Ina | |
Schliemann wollen als Erstes testen, ob wir überhaupt fähig sind, uns zu | |
artikulieren. | |
Dafür soll jeder von uns der Reihe nach einen Satz vorlesen - möglichst | |
originell betont. Sollte ich das schaffen, bin ich eine Runde weiter und | |
darf auch mal schauspielern. Ich gebe mir daher sehr viel Mühe, meinen | |
Schweizer Akzent mittels weicher Rs zu verbergen. | |
Während die Jury darüber berät, wen sie für sprachuntauglich hält, spreche | |
ich mit Philipp. Auch er will Gruselmonster werden. "Leute erschrecken | |
macht Spaß", sagt er, "das ist mein Tick." Seine WG-Mitbewohner wären davon | |
mittlerweile richtig genervt. Philipp ist Veranstaltungskaufmann in | |
Ausbildung. Im Heidepark arbeitete er in seiner Freizeit schon mehrmals als | |
Erschrecker. Nur zum eigenen Vergnügen. | |
Die Jury hat mittlerweile entschieden: Wir dürfen alle einzeln vorsprechen. | |
Ich bin im Recall, ich juble innerlich und schäme mich gleichzeitig ein | |
wenig. Einzig Niklas kam nicht weiter. Erschrecker wollte er eigentlich | |
werden, sagt der schmächtige Schüler mit einem kurzen Lächeln. Aber egal, | |
jetzt macht er wohl im Service mit. "Gibt 400 Euro im Monat, ne." | |
Ich frage mich, welche Performance ich gleich hinlegen soll. Muss ich | |
herumschreien? Mit erhobenen Armen durch die Gegend rennen? Meine wenigen | |
Erfahrungen im Gruselbereich begrenzen sich auf Geisterbahnfahrten im | |
Kindesalter. Ich war noch nicht einmal im Hamburg Dungeon. Von einem | |
Grusellabyrinth ganz zu schweigen. | |
Bin ich überhaupt gruselig? Immerhin schaffe ich es, meine Freundin | |
ansatzweise einzuschüchtern, wenn ich den Psycho spiele, der soeben seine | |
eigenen Kätzchen ertränkt hat. Ob das reicht? 2010 erschraken sich über | |
26.000 Gruselfans im Labyrinth. Die erwarten bestimmt keine | |
Kinderüberraschungen, sondern professionelles Schocken. Den Horrorbereich | |
dürfen sogar nur Besucher betreten, die älter sind als 16 Jahre. | |
Ich bekomme von der Jury die Aufgabe, mich auf zwei Rollen vorzubereiten. | |
Video-Aufnahmen einer früheren Show helfen mir dabei, mich in die | |
Charaktere einzufühlen. Sie werden auf einem Fernseher gezeigt, der auf | |
einem einsamen Stuhl in der Halle steht. | |
Den Artibeus soll ich spielen, und den Gront. Artibeus ist der schmierige | |
Lakai der Hexenfürstin Lady Fortescue, die in ihrer Festung nach Herrschaft | |
strebt. Gront ist ein putziges Waldwesen. Er wurde von der Hexenfürstin in | |
den Gruselwald verbannt, weil er sich weigerte, diesen niederzubrennen. Ich | |
mag Gront nicht besonders. Vor allem nicht dessen schrullige Putzigkeit. | |
In einem zur Castingbühne umfunktionierten Hinterzimmer trage ich keine | |
Viertelstunde später den Sprechpart von Artibeus vor. Dieses Mal rolle ich | |
das R so stark wie nur möglich. Das passe zu Artibeus, versichert mir die | |
Jury, dieser leicht transsylvanische Touch. Ich versetze mich so sehr in | |
die Rolle, dass ich unbewusst Grimassen schneide und zu gestikulieren | |
beginne. Verdammt, das macht sogar Spaß, denke ich, und rolle wirr mit den | |
Augen. | |
"Und jetzt den Gront", fordert mich Holger Schliemann auf. Ich fluche | |
innerlich, verliere den letzten Respekt vor mir selbst und krächze "Jawohl, | |
jawohl." Das ist Gronts Erkennungsmerkmal. Sagt er nach fast jedem Satz. | |
Ich muss den Part wiederholen. Beim ersten Versuch war ich nicht putzig | |
genug. "Und jetzt das R bitte nicht mehr rollen", weist mich die Jury an. | |
Ich versuche, die Anweisungen zu befolgen, spüre aber bereits, dass ich | |
scheitere. Ich bin wohl eher für osteuropäische Hexendiener gemacht. | |
Die Jurymitglieder lächeln. "Das war schon mal ziemlich gut", sagt Ina | |
Schliemann und steht auf. Per E-Mail würde ich erfahren, ob ich die Rolle | |
bekomme. Ich darf gehen und bin leicht enttäuscht. Ich erwartete | |
Schmähungen im Stil eines Dieter Bohlen oder aber überwältigende Standing | |
Ovations. Nicht diese freundliche Indifferenz. | |
War ich denn gut genug? Schließlich bewerben sich bis zu hundert Leute für | |
die zehn Rollen, die das Grusellabyrinth jährlich neu besetzt, um das Team | |
aus hundert Mitarbeitern zu verstärken. | |
"Wir hätten dich genommen", sagt Holger Schliemann, nachdem ich mich | |
schließlich als taz-Autor oute. "Ich fand dich charismatisch. Ich glaube, | |
dass du die Leute gut fasziniert hättest und sie dir gerne zugehört | |
hätten." Es bringe nichts, Leute hinzustellen, die nur grausig aussehen | |
oder gut schreien können. Davon hätten die Besucher nichts. Gutes | |
Entertainment entstehe erst aus der perfekten Mischung von Schauspiel, | |
Atmosphäre und Schockeffekten. | |
Ich bin überrascht und leicht geschmeichelt. Sofort denke ich aber an das | |
traurige Schicksal unzähliger Deutschland sucht den Superstar-Sieger, die | |
sich - von der Unterhaltungsindustrie ausgesaugt - auf Provinzbühnen | |
tummeln oder als Tarzan-Musicaldarsteller verdingen müssen. Ein Sklave der | |
Castinggesellschaft - das ist nichts für mich. Aber vielleicht verwandle | |
ich mich an Halloween ausnahmsweise doch in ein Gruselmonster. | |
## Ein zweites öffentliches Casting findet am Sonntag, 4. September ab 14 | |
Uhr in Kiel statt. Adresse: Tonberg 15, Tor 3 | |
2 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Adrian Meyer | |
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