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# taz.de -- Kommentar Direkte Demokratie: Wir müssen mehr Volk wagen
> Eine stärkere Bürgerbeteiligung hilft nicht nur den besser Gebildeten,
> sie belebt auch die verschlafene Parteiendemokratie. Und das ist dringend
> notwendig.
Bild: Nicht einfach vorbeigehen. Bürger bestimmen mit, wenn man sie lässt.
Statt eine neue Unübersichtlichkeit und damit neue soziale Spaltungen zu
schaffen, gälte es, die Transparenz von Verfahren zu stärken, Wahlen nicht
weiter zu entwerten und den Parlamentarismus zu beleben." So lautet eine
der Thesen, die der Politikwissenschaftler Markus Linden in einem [1][Essay
in der taz vom 15. August] vertrat. Dass der Parlamentarismus lebendiger
werden muss, wird jeder, der beobachtet, wie das Vertrauen in Politiker und
Wahlen sinkt, bestätigen können. Wie kann man dem begegnen?
Linden warnt vor der direkten Demokratie, weil sie soziale
Benachteiligungen verfestigen könne. Die Parlamente könnten die Bevölkerung
besser vertreten als sie sich selbst. Das greift zu kurz, um der direkten
Demokratie eine Rolle bei der Belebung des Parlamentarismus abzusprechen.
Sie kann für Parlamente und Regierungen wie eine Erfrischungsdusche sein,
keinesfalls gräbt sie ihnen das Wasser ab. Sie legt vernachlässigte Themen
oder latente Unzufriedenheit offen und hat damit eine seismografische
Funktion. Wenn die Menschen - notfalls - selbst entscheiden können, wird
die Politik ihre Entscheidungen eher an den Interessen der Bevölkerung
orientieren. Tatsächlich wird so die repräsentative Demokratie durch
Volksbegehren repräsentativer. Vorausgesetzt, es gibt direkte Demokratie
überhaupt und sie ist fair geregelt.
Linden führt als Beispiel für seine Bedenken den Hamburger Volksentscheid
zur Schulreform an. Eine Mehrheit von 58 Prozent der Abstimmenden erteilte
der von der Bürgerschaft gewollten Reform eine Absage. Bei einer
Beteiligung von 39,3 Prozent wurde der Vorschlag der Initiative "Wir wollen
lernen" gegen die Reform angenommen. Der Kompromissvorschlag der
Bürgerschaft dagegen scheiterte.
In Hamburg haben 492.094 Menschen abgestimmt - sie repräsentieren die
Stimmberechtigten besser, als es 121 Abgeordnete können. Untersuchungen aus
der Schweiz zeigen: Vergleicht man die Ergebnisse bei Volksentscheiden mit
Meinungsumfragen kurz vorher, weichen sie fast nie generell ab.
Auch die Ablehnung der Schulreform in Hamburg deutete sich bereits in
Umfragen an und kann nicht darauf zurückgeführt werden, dass mutmaßlich
größere Teile der Ober- und Mittelschicht abstimmen gingen. In der
Bevölkerung gab es für die Primarschule einfach keine Mehrheit. Die
Parteiendemokratie, die laut Linden Minderheiten besser vertritt, über die
Köpfe der Bevölkerung hinweg entscheiden zu lassen, löst das Problem nicht.
Es gilt, Minderheiten zu aktivieren statt zu bevormunden.
## Mehr Beteiligung für Migranten
Die soziale Exklusion, die Linden als Gefahr von direktdemokratischen und
partizipativen Verfahren ausmacht, ist zudem ein bekanntes Phänomen:
Bildungsnähere Menschen bringen sich politisch stärker ein. Das gilt auch
für die repräsentative Demokratie, für die Wählerschaft ebenso wie für die
Kandidaten und späteren Parlamentarier. Dieses Problem durch die
Einschränkung der direkten Demokratie zu lösen, hieße aber, das Kind mit
dem Bade ausschütten.
Ein Schritt, um die soziale Ausgrenzung abzubauen, wäre, Migrantinnen und
Migranten mehr Beteiligungsrechte zuzugestehen - in Hamburg durfte genau
diese Gruppe, die zudem noch von der Schulreform profitieren sollte, gar
nicht abstimmen. Es ist eine Aufgabe der Bürgergesellschaft, diejenigen ins
politische Boot zu holen, die "denen da oben" resigniert das Steuer
überlassen. Das kann durch bessere Information, vor allem aber durch den
Ausbau und die wiederholte Anwendung von Beteiligungsinstrumenten
passieren.
Je häufiger die Bürger verbindlich entscheiden dürfen, desto mehr wächst
die Überzeugung: Wir sind gefragt. Das belegt die jährlich im
"Volksbegehrensbericht" dokumentierte Praxis in Ländern und Kommunen: Dort,
wo Instrumente der direkten Demokratie reformiert wurden, nutzen sie die
Bürger auch intensiver.
## Wir brauchen mehr Mutbürger
Wir brauchen verbindliche direktdemokratische Verfahren vom kommunalen
Bürgerbegehren bis zum bundesweiten Volksentscheid, dessen Einführung
überfällig ist. Es wird nicht genügen, wenn die Bevölkerung auf Bundesebene
vom Parlament beschlossene Gesetze wieder zurückgeben kann. Direkte
Demokratie bliebe damit auf die "Wutbürger" beschränkt. Doch was ist mit
den "Mutbürgern", die Ideen einbringen wollen?
Die direkte Demokratie als Ergänzung zur parlamentarischen Demokratie muss
eine echte Volksgesetzgebung und beides sein: Bremse und Gaspedal. Nach den
Vorstellungen von "Mehr Demokratie!" soll einem Volksbegehren ein
Gesetzentwurf zugrunde liegen. Dieser müsste - ist die erforderliche Zahl
an Unterschriften zusammengekommen - zwingend vom Parlament behandelt
werden. Lehnt das Parlament den Vorschlag ab, käme es zum Volksentscheid.
Damit könnte also eine Idee aus der Mitte der Bevölkerung allen
volljährigen Bürgern zur Entscheidung vorgelegt werden.
Eine Schlüsselrolle kommt der direkten Demokratie auch gegenüber allen
anderen Beteiligungsformen zu. Linden verweist richtig darauf, dass etwa
ein Bürgerhaushalt zur "Beteiligungsshow" werden kann. Bei allen
Beteiligungsformen sind die Anregungen der Bürger "am Ende des Tages" ins
Belieben der Entscheider gestellt - außer bei der direkten Demokratie. Hier
kann sich eine Initiative von den mehrheitstragenden Fraktionen unabhängig
machen. Erfüllt sie die festgelegten Unterschriftenhürden, wird das
Anliegen direkt vom Volk entschieden.
Damit ist auch ein Druckmittel gegeben, Meinungen der Menschen in
Beteiligungsverfahren ernst zu nehmen und nicht einfach abzubügeln.
Passiert das nämlich, starten die Bürger eben ein Bürgerbegehren und nehmen
damit die Entscheidung selbst in die Hand. Die direkte Demokratie sorgt
also dafür, dass andere Beteiligungsformen ihre Kraft entfalten können.
Sich aus Angst vor Unübersichtlichkeit und sozialen Spaltungen auf die rein
repräsentative Demokratie zurückzuziehen und zu fordern, diese möge "mehr
Transparenz wagen", genügt nicht. Die direkte Demokratie veredelt die
repräsentative Demokratie. Wir müssen mehr Volk wagen.
6 Sep 2011
## LINKS
[1] /Debatte-Mitwirkung/!76278/
## AUTOREN
Ralf-Uwe Beck
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