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# taz.de -- Gesellschaftlicher Wandel in Tschetschenien: Terror hinter glänzen…
> Äußerlich normalisiert sich das Leben in Grosny. Während sich Ramsan
> Kadyrow als großer Baumeister gibt, herrscht unter der Oberfläche Angst.
> Die Sitten verrohen.
Bild: Die neue Moschee in Grosnys Zentrum: angeblich Europas größtes Gottesha…
GROSNY taz | Die einst zerbombte Hauptstadt Tschetscheniens ist nicht
wiederzuerkennen. In der ganzen Stadt lärmen Baumaschinen rund um die Uhr.
Ununterbrochen schaffen Lkws neue Baumaterialien heran und hüllen die Stadt
in eine Staubwolke. Ramsan Kadyrow, der Herrscher in Grosny, ist ehrgeizig.
Aus der tschetschenischen Kapitale soll wie früher vor den Kriegswirren
wieder die schönste Stadt des Nordkaukasus werden.
Das zumindest versprach Kadyrow, der zu Hause schon als "größter Baumeister
der Welt" gefeiert wird. "Ramsan, Grosny ist dir dankbar", verkündet eine
Leuchtschrift an der Häuserfront gegenüber der neuen Moschee im Zentrum.
Sie ist der Blauen Moschee Istanbuls nachempfunden und mit 10.000 Plätzen
angeblich Europas größtes Gotteshaus.
Nebenan eröffnete Russlands dritte islamische Universität mit 600
Studienplätzen die Tore. Sie trägt den Namen des Scheichs Kunta-Hadschi.
Der tschetschenische Gandhi aus dem 19. Jahrhundert predigte den
kaukasischen Bergvölkern, sich im Krieg gegen den russischen Eroberer nicht
sinnlos aufzuopfern. Im Kampf gegen einen stärkeren Gegner zu fallen sei
Selbstmord, die größte aller irdischen Sünden. Kunta-Hadschis Pragmatismus
ist die Leitidee des neuen Tschetscheniens.
Einen Steinwurf entfernt wächst unterdessen ein hypermoderner
Geschäftskomplex in die Höhe. Unternehmen aus den Emiraten und der Türkei
errichten die verglasten Hochhäuser der Grosny City. Architektonisch erhebt
die City schon jetzt den Anspruch einer Metropole. Tradition und Moderne
sind eine Einheit, vermittelt das Ensemble.
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## Erstarrtes Leben
Die Bevölkerung schätzt den Fortschritt. Das beeindruckende Bauprogramm
umfasst nicht nur Repräsentativbauten; neue Wohnhäuser entstehen, und
ältere Gebäude erhalten neue Fassaden. Als nach mehr als einem Jahrzehnt
aus dem neuen 1.500 Kilometer langen Leitungssystem erstmals wieder
fließendes Wasser floss, war dies für die Bewohner der Beginn einer neuen
Zeitrechnung.
Äußerlich normalisiert sich das Leben. Unter der Oberfläche wühlt indes die
Angst. Wer sich der Herrschaft des Kadyrow-Clans widersetzt, bleibt nicht
nur von den Segnungen des Wiederaufbaus ausgeschlossen. Der Terror des
Regimes kann jeden jederzeit treffen. Das ist wohl der Grund, warum schon
am späten Nachmittag die Innenstadt wie ausgestorben ist. Selbst in
Kriegszeiten herrschte mehr Treiben auf den Straßen. Die Menschen meiden
die Öffentlichkeit. Bürgerrechtler, die nie ein Blatt vor den Mund nahmen,
bitten heute um Anonymität. Lachen fällt Grosny schwer.
Das Gefälle zwischen dem Durchschnittstschetschenen und der herrschenden
Clique lässt sich im neuen Einkaufstempel Firdaws am Rande des Zentrums in
Augenschein nehmen. Hinter den Glasfassaden der Shoppingmall haben sich
Markenhersteller aus aller Welt eingerichtet. Von edelsteinverziertem
Porzellan orientalischer Provenienz, französischer Babykleidung,
Gucci-Handtäschchen bis zu Designermode für die islamische Frau ist alles
zu haben. Putzfrauen wienern alle Viertelstunde die ohnehin spiegelblanken
Böden. Vor den Auslagen hocken gelangweilt Verkäuferinnen. Ihnen bleibt
nichts, als Zeit totzuschlagen, denn Kunden machen sich rar. Es gibt sie
aber: "Unsere Ware kann sich nur leisten, wer dazugehört!", sagt Saarema.
Der Kadyrow-Clan ist gemeint. Diese Klientel schaut nicht einfach vorbei,
sie vereinbart einen Termin. Warum die neuen Reichen beim Einkaufen nicht
beobachtet werden möchten, ist allerdings rätselhaft. Denn die neue
Oberschicht des Landes stellt den Luxus gern zur Schau. Sie hat die Phase
der Hemmungslosigkeit und Großkotzigkeit noch nicht hinter sich gelassen.
Grosny ist eine neue Stadt, auch ihre Bewohner sind nicht mehr die alten.
Einer dieser neuen Städter ist Magomed. Der Teenager taucht aus dem Nichts
in der Einkaufsmall auf. Er neigt den Oberkörper nach Rapperart, reckt den
gestreckten Daumen in die Luft und erklärt lauthals: "Es gibt nur einen
Allah!" Den Wagen des Vaters möchte er unbedingt vorführen. Ein
Mercedes-Jeep mit blitzblanken Felgen, die gepflegter sind als die kariösen
Zähne des Söhnchens. "Mein Vater ist Berater des Präsidenten!", sagt er.
Wir sind die Herren und können uns alles erlauben, heißt das.
Tschetscheniens traditionelle Gesellschaft kannte und duldete keine
Hierarchien. Grosnys Jeunesse dorée weiß davon nichts mehr.
## Erosion der Werte
Unter der aufpolierten Oberfläche verroht das Land. Die Erosion der Werte
hat mit Modernisierung nichts gemein. Die Gesellschaft ist
orientierungslos. Je deutlicher das wird, desto unnachgiebiger stülpt der
Präsident der Gesellschaft das selbst geschneiderte Korsett aus Islam und
Tradition über - vielmehr das, was er dafür hält.
Seitdem Ramsan Kadyrow die Nachfolge seines ermordeten Vaters Achmat
angetreten hat, mauserte sich der grobschlächtige Dorfbengel zu einem
gewieften Politiker. Dem islamistischen Widerstand in den Bergen entzog er
- wie Moskau es verlangte - nach und nach die Attraktivität, indem er eine
eigene Islamisierung betrieb und Widerständler in seine Reihen aufnahm.
"Alles haben wir erreicht, wofür wir früher gekämpft haben", meint Umar,
ein übergelaufener Freischärler. "Wir sind so gut wie unabhängig und leben
nach den Gesetzen des Islam. Und wer zahlt? Russland!", lacht er, "Ramsan
sei Dank."
Kadyrows religiöses Programm unterscheidet sich denn auch kaum von dem des
Terroristen und kaukasischen "Emirs" Doku Umarow, der als Strippenzieher
der Anschläge in Moskau im März 2010 agierte. Zwar rufen Ramsans Milizen
nicht zum heiligen Krieg gegen Moskau auf, aber der Ramsanismus unterhöhlt
das russische Rechtssystem und hat es längst durch Gewohnheitsrecht (Adat)
und Scharia ersetzt.
Leidtragende sind vor allem die Frauen, die in eine rechtlose Rolle
gedrängt werden. Den Tschetschenen war das bislang fremd. Es sind wiederum
meist Frauen, die ein Widerwort wagen. Sie, so scheint es in diesem Sommer,
sind die einzige Kraft, die das Regime eines Tages infrage stellen könnten.
Auch auf dem Dorf wollen sich viele von den willfährigen Statthaltern nicht
mehr alles vorschreiben lassen. Wo sich eine kritische Stimme erhebt und
Menschenrechtsverletzungen angeprangert werden, stehen Frauen dahinter. Oft
lassen sich schon an der Körperhaltung Distanz und Verachtung ablesen.
In den Kriegsjahren stellten sich die Frauen vor ihre Männer, versteckten
und schützten sie, ernährten die Familie. Ohne ihren Einsatz gäbe es
Tschetschenien wohl nicht mehr. Kadyrow will ihre gewachsene Rolle nicht
länger hinnehmen. Arbeiten gezieme sich für eine Tschetschenin nicht,
predigt er im Fernsehen immer wieder, die Stellung einer Zweitfrau sei
allemal erstrebenswerter. Oft können sich junge Mädchen nicht widersetzen,
wenn sie als Zweit- oder Drittfrau gegen ihren Willen mit älteren Männern
aus dem Clan verheiratet werden.
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## Öffentliches Maßregeln
Die Kontrolle der Frau ist bedrückend, sie hängt wie ein Schleier über
Grosny. Noch vor zehn Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass eine Frau
wegen ihres Äußeren auf der Straße von einem wildfremden Mann gemaßregelt
worden wäre. Der Familie war dies vorbehalten, es hätte zu Blutrache
geführt, erzählt eine Bürgerrechtlerin. Heute sei es alltäglich.
Auf den ersten Blick fügen sich die Frauen und tragen, wie verlangt,
Kopftücher. Sie kokettieren aber mit dem Kopfschmuck, was sie zuweilen noch
verführerischer erscheinen lässt. Auch der körperbetonte Maxilook auf
schornsteinhohen Absätzen wirkt wie eine ironische Finesse. Wie vieles an
der Herrschaft Kadyrows erinnert auch das Kleidergebot an eine
Inszenierung, die mit dem Original nur Spielchen treibt. Fantasien eines
Erotomanen, sozusagen. Ramsan bekennt sich zur Vielweiberei und ehelicht
regelmäßig neue Favoritinnen.
Die Islamisierung sollte zunächst den Widerstand neutralisieren, inzwischen
poliert sie auch das Ansehen des Mannes auf. Viele Männer aus einfacheren
Verhältnissen begrüßen das. Freitags strömen sie zu Tausenden in die
Moschee, die meisten Frauen bleiben lieber zuhause. Das
Geschlechterverhältnis ist zu einem Problem geworden, das selbst die
Regierungspresse nicht mehr übergehen kann. Sozialarbeiter warnen, Gewalt
gegen Frauen hätte ein ungekanntes Ausmaß angenommen.
Islamische Zeitschriften bemühen sich unterdessen, die Frau auf den
tugendhaften Pfad zu führen. Die Illustrierte sluchi chodjat ("Gerüchte
machen die Runde") rät jungen Bräuten: "Stelle deinem Mann nie ein
Ultimatum: Ich oder deine Familie. Lächle, sei duldsam und widersprich der
Schwiegermutter nie!" Autor könnte Ramsan Kadyrow sein. Der "größte
Baumeister der Welt" ist ehrgeizig. Nach Grosny will er auch dessen
Bewohner neu erschaffen. Allein nach seinem Bilde.
6 Sep 2011
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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