# taz.de -- Montagsinterview mit Jobcenter-Mitarbeiterin: "Das Jobcenter ist do… | |
> Eigentlich wollte sie Reisebusfahrerin werden, doch seit 2005 kämpft Anke | |
> Overbeck im Jobcenter Kreuzberg für die Gleichberechtigung Arbeitsmarkt. | |
> Von Benachteiligungen kann die 56-Jährige als Blinde selbst ein Lied | |
> singen. | |
Bild: "Es gibt halt MitarbeiterInnen mit Berliner Kodderschnauze und da ist nic… | |
taz: Frau Overbeck, seit der Einführung von Hartz IV arbeiten Sie im | |
Jobcenter. Was machen Sie da genau? | |
Anke Overbeck: Meine Aufgabe ist es, im Haus für Chancengleichheit zu | |
sorgen und Diskriminierung entgegenzuwirken. | |
Also kommen alle Hartz-IV-Empfänger zu Ihnen, die sich vom Jobcenter | |
schlecht behandelt fühlen? | |
Ich mache keine Sprechstunde, aber am Anfang kamen die Menschen tatsächlich | |
mit ihren Bescheiden zu mir und haben gesagt: Das verstehe ich nicht, ich | |
will den so kriegen, dass ich das verstehe. Das ist natürlich ein | |
berechtigtes Anliegen, ich verstehe die Bescheide manchmal auch nicht. Aber | |
ich bin Ansprechpartnerin für Diskriminierung und keine Widerspruchsstelle. | |
Welche Diskriminierungen gibt es denn im Jobcenter? | |
Gleich am Anfang hatte ich einen Fall, bei dem eine Weiterbildung mit dem | |
Hinweis "zu alt" abgewiesen wurde. Früher war es tatsächlich undenkbar, | |
dass Menschen über 40 noch eine Weiterbildung finanziert bekommen. So haben | |
es die Arbeitsvermittler damals gelernt. Heute müssen die Menschen bis 67 | |
arbeiten, da kann ich doch einer 40-Jährigen keine Weiterbildung ablehnen. | |
Das muss man aber auch erst mal verinnerlichen. | |
Gab es die Weiterbildung dann? | |
Ja, in diesem Fall ließ sich das ganz schnell klären. Oft geht es gar nicht | |
um die Inhalte, sondern um den Ton. Es gibt halt MitarbeiterInnen mit | |
Berliner Kodderschnauze und da ist nicht jeder empfänglich für, fühlt sich | |
vielleicht sogar bedrängt. Ich spreche dann mit den KollegInnen oder nehme | |
gleich Kontakt zum Vorgesetzten auf, vor allem wenn ich mehrere Beschwerden | |
zu einer Person habe. | |
Das ist aber nicht alles. | |
Richtig. Vor allem informiere ich unsere MitarbeiterInnen über Angebote für | |
die, die auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt benachteiligt werden: | |
Deutschkurse für gehörlose MigrantInnen, Alphabetisierungskurse, Angebote | |
für traumatisierte Kriegsflüchtlinge. Dafür treffe ich mich regelmäßig mit | |
den Projektträgern im Bezirk und habe inzwischen mehrere Arbeitsgruppen im | |
Haus: zum Thema Frauen in Gewaltsituationen, Alleinerziehende, | |
interkulturelle Öffnung. | |
Ziemlich viele Baustellen. | |
Das ist das Tolle und zugleich die Gefahr an diesem Job. Ich war hier im | |
Haus die Erste auf dieser neu geschaffenen Stelle und wusste am Anfang gar | |
nicht, was ich machen soll. Ein halbes Jahr später saß ich da und dachte, | |
ich weiß gar nicht, wann ich das alles machen soll. So ist es auch heute | |
noch. | |
Welche Gruppe ist denn am schwersten vermittelbar? | |
Oh, das lässt sich nicht sagen. Aber drei Gruppen werden massiv | |
diskriminiert: Die Alleinerziehenden, weil viele Arbeitgeber schon im | |
Vorfeld sagen, da steht die Arbeitskraft nicht uneingeschränkt zur | |
Verfügung. Menschen mit Behinderung werden sowieso als weniger | |
leistungsfähig eingestuft. Aber auch gut Ausgebildete mit | |
Migrationshintergrund - da sind es wieder vor allem die Frauen - haben | |
große Probleme. Oftmals ist es schon der ausländisch klingende Name, der | |
die Einladung zum Vorstellungsgespräch verhindert. Ich bin übrigens sehr | |
gespannt auf die Initiative fünf großer Unternehmen, die mit anonymen | |
Bewerbungen einstellen wollen. | |
Ihr Ziel ist immer die Vermittlung in Arbeit? | |
Wir sprechen von Integration, wenn jemand eine Stelle auf dem ersten | |
Arbeitsmarkt gefunden hat. Diesen letzten Schritt schaffen die Leute häufig | |
selber. Was sie aber vom Jobcenter brauchen, ist die Ebnung des Weges bis | |
dahin. | |
Welche Möglichkeiten hat das Jobcenter denn, wenn die Sachbearbeiter gerade | |
mal ein paar Minuten für jeden Antragsteller haben? | |
Nee, nee, das ist schon mehr. Wir unterscheiden zwischen dem | |
Leistungsbereich, wo es das Geld gibt. Und dem Vermittlungsbereich, wo man | |
sich hinsetzt und schaut, was ist eigentlich passiert, was bringt jemand | |
mit und was kann das Jobcenter tun. Diese ersten Gespräche dauern bis zu | |
einer Stunde. Trotzdem muss man sagen: Was ist das im Verhältnis zu einem | |
Leben? | |
Wenig. | |
Wenn es darum geht, in den Arbeitsmarkt zu kommen, ist doch die berufliche | |
Qualifikation nur die eine Seite. Es gibt persönliche Notlagen, die den | |
Menschen ausbremsen und die man nicht auf den ersten Blick sieht: ein | |
Angehöriger, der gepflegt werden muss, oder ein Ehemann, der gar nicht | |
will, dass seine Frau arbeitet, oder massive Schulden oder | |
Wohnungsprobleme. Das muss alles mit abgewogen werden. | |
Kann das Jobcenter das leisten? | |
Was für eine Frage! Das Jobcenter ist doch kein Neutrum. Alle, die hier | |
arbeiten, sind geschult und besuchen regelmäßig | |
Informationsveranstaltungen. Manche kennen sich in bestimmten Bereichen | |
besser aus als andere, dann hilft man sich untereinander. Aber es ist wie | |
überall, wo Menschen arbeiten: Es wird auch Situationen geben, wo jemand | |
hier aus dem Haus rausgeht und hat eine Information nicht bekommen, weil | |
der Bearbeitende es nicht gewusst hat. Trotzdem: DAS Jobcenter gibt es | |
nicht. | |
DAS Jobcenter hat aber nicht gerade den besten Ruf. Begegnet Ihnen | |
Ablehnung, wenn Sie sagen "Ich arbeite im Jobcenter Kreuzberg"? | |
Das gibt man inzwischen ungern zu, das ist ja wie ein Outing. In den Medien | |
wird aber auch nur berichtet, was schiefläuft. Über die abertausenden | |
Menschen, die hier ihre Leistungen bekommen und bei denen es gut läuft, | |
wird nicht berichtet, das wird als Selbstverständlichkeit betrachtet. | |
"Draußen" kommt an, dass hier alle so unfreundlich sind, dass man oft | |
klagen muss. | |
Ist doch auch so - oder etwa nicht? | |
Das war doch vorher beim Bundessozialhilfegesetz auch nicht anders. Schlimm | |
ist, wenn neue Gesetze unausgegoren auf den Weg gebracht werden. Wir im | |
Jobcenter müssen die dann umsetzen und wenn es nicht klappt, fällt das auf | |
uns zurück. So ist es aktuell beim Bildungspaket. | |
Über dieses bürokratische Ungetüm jammern alle: der Senat, die Schulen, die | |
Bezirksämter, die Betroffenen, die Jobcenter. Hätte man das Geld lieber | |
direkt auszahlen sollen? | |
Nein, dann wäre es in den Haushalt geflossen, weil es bei Hartz-IV-Familien | |
auch dort an Geld fehlt. Ich hätte mir vorstellen können, dass man | |
bestimmte Angebote wie Schulessen ganz kostenlos macht. Das hätte mehr | |
Gleichberechtigung geschaffen. Aber es ist müßig, jetzt darüber zu | |
diskutieren, wie man es hätte anders machen können. | |
Sie haben gesagt, den Schritt auf den ersten Arbeitsmarkt gehen die | |
Menschen häufig alleine. Sie als Jobcenter können aber auch keine Jobs | |
schaffen, wo es keine gibt. Was ist denn für Sie Erfolg? | |
Der Auftrag des Jobcenters ist schon, die Menschen wieder in Arbeit zu | |
bringen. Für mich als Sozialarbeiterin gelten aber noch ganz andere | |
Maßstäbe: Erfolg kann auch sein, wenn sich eine alleinerziehende Mutter mit | |
unserer Unterstützung so weit stabilisiert, dass sie sich bereit fühlt für | |
einen 20-Stunden-Job. Oder wenn eine Frau, die in ihrem Herkunftsland nie | |
eine Schule besucht hat, mit viel Mühe als Erwachsene einen Abschluss | |
macht. Manche sind allerdings schon vorher aufgebraucht. Wir sind hier | |
tagtäglich mit Menschen konfrontiert, die die Arbeitslosigkeit krank | |
gemacht hat.Wenn sich da jemand rauswühlt, ist das Erfolg. Der zählt aber | |
nicht für die Statistik. | |
Haben Sie ein Beispiel? | |
Da denke ich gleich an die Stadtteilmütter. | |
Ein Programm aus Neukölln. | |
Stimmt. Wir haben es übernommen und angepasst. Da sind Frauen dabei, die | |
sich vor zwei Jahren überhaupt nicht zugetraut haben zu arbeiten, aber | |
inzwischen eine Ausbildung zur Sozialassistentin aufgenommen haben. Bei | |
denen die Männer inzwischen sagen, das finde ich gut. Das ist noch keine | |
Integration, aber das ist ein wesentlicher Baustein auf dem Weg dorthin. | |
Waren Sie selbst schon einmal arbeitslos? | |
Ja. Direkt nach dem Studium für ein halbes Jahr. 1981 war das. Ich hatte | |
schon Probleme, ein Praktikum geschweige denn eine Arbeitsstelle zu finden | |
aufgrund meiner Behinderung. Dass ich mir von der Telefonseelsorge bei | |
einer Bewerbung sagen lassen musste, "Sie können Ihr Gegenüber nicht | |
sehen", das war schon sehr merkwürdig. So bin ich schließlich im Sozialamt | |
gelandet, wo ich ursprünglich nie hinwollte. | |
Haben Sie damals überlegt, was Sie als blinder Mensch überhaupt werden | |
können? | |
Das muss man doch immer! Ich kann mich ja nicht als Kraftfahrerin | |
verdingen. Dabei war das mein Kindheitstraum: Ich wollte Reisebusse fahren, | |
damit ich ein bisschen rumkomme. Mit zunehmenden Alter hat sich dann | |
herauskristallisiert, dass meine Fähigkeiten eher im beratenden Bereich | |
liegen. | |
Menschen mit Migrationshintergrund, mit Behinderungen, Alleinerziehende: | |
Ist es für die Gruppen, die Sie vertreten, leichter oder schwerer, in einer | |
Stadt wie Berlin zu leben? | |
Es gibt in der Großstadt mehr Möglichkeiten, Netzwerke zu knüpfen und | |
Gleichbetroffene zu finden. Das soziale Leben ist einfacher, man ist nichts | |
Besonderes. Es gibt Initiativen, Arbeitsgruppen, Gesprächsrunden. | |
Gilt das auch für blinde Menschen? | |
Großstadt ist schon eine Herausforderung: Die Baustellen, ständig verändert | |
sich etwas, die Menschen sind unachtsamer. Aber wenn ich ans Land denke, wo | |
es häufig nicht einmal einen Bürgersteig gibt und der Bus nur zweimal am | |
Tag fährt, da hätte ich auch ein Problem. | |
Sie gehen gern ins Kino. Da gibt es sicher in Berlin auch spezielle | |
Möglichkeiten. | |
Stimmt. Aber ich gehe auch in die gewöhnlichen Kinos. Meist in Begleitung | |
einer Freundin, die das schon lange mit mir macht und genau weiß, worauf es | |
ankommt. | |
Und da gibt es kein Gemecker von anderen Kinogängern? | |
Wir sitzen immer da, wo sonst keiner sitzen will: ganz vorne am Rand. | |
Einmal im Monat gibt es außerdem im Kleist-Haus Filme mit Audiodeskription. | |
Und natürlich zur Berlinale: Da habe ich in diesem Jahr eine wunderbare | |
Dokumentation über den Friedhof Weißensee gesehen. | |
Sie meinen, gehört. | |
Ach was, die Sprache bleibt schon gleich. Ich geh ja auch nicht aus dem | |
Laden und sage auf Wiederhören. | |
Ihr Arbeitsplatz im Jobcenter wurde eigens für Sie blindengerecht | |
ausgestattet. Würden Arbeitgeber diesen Aufwand auch für einfache | |
Tätigkeiten betreiben? | |
Das zahlt das Integrationsamt aus den Strafgeldern der Unternehmen, die | |
nicht genügend Schwerbehinderte einstellen. Wenn eine Hartz-IV-EmpfängerIn | |
ein Lesegerät oder ein Schreibtelefon braucht, um eine | |
sozialversicherungspflichtige Tätigkeit aufzunehmen, dann fließen diese | |
Gelder auch. Aber wenn dieser Mensch einen 1-Euro-Job macht, dann gibt es | |
keinen Topf, aus dem man das finanzieren könnte. | |
Heißt das, wenn alle Unternehmen schwerbehinderte Arbeitssuchende | |
einstellen, dann gibt es kein Geld mehr für Integrationsmaßnahmen? | |
Stimmt, dann müsste ja niemand mehr Strafe zahlen. Diese Kopplung ist schon | |
in der Anlage absurd. | |
Aber davon sind wir sowieso meilenweit entfernt. | |
Jahrelang haben wir nur defizitorientiert gedacht, was ein Mensch alles | |
nicht kann. Auch bei den MigrantInnen, die mehrere Sprachen können, | |
unterschiedliche Kulturen kennen - das ist doch ein Plus. Oder | |
Alleinerziehende, die zeitlich nicht unbegrenzt flexibel sind, aber häufig | |
ein unglaubliches Organisationsgeschick an den Tag legen. Aber das muss | |
erst einmal ankommen, bei den Betroffenen, auf dem Arbeitsmarkt, in der | |
Gesellschaft. Dieser Wandel findet gerade statt, auch hier bei uns im Haus. | |
Wie viel Chancengleichheit gibt es denn unter den Mitarbeitern im | |
Jobcenter? | |
Der Versuch ist da, dass sich die Gesellschaft auch hier im Haus abbildet. | |
Lange war das gar nicht möglich, weil im öffentlichen Dienst | |
Einstellungsstopp war. In den kommenden zehn Jahren gehen aber 50 Prozent | |
in Rente, das eröffnet ganz andere Möglichkeiten. Das sehen Sie hier jetzt | |
schon, da brauchen sie nur mal die Namensschilder in den Fluren zu lesen. | |
11 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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