# taz.de -- Essay zum Jubliäum in Hamburg und Bremen: Die Klage der taz | |
> Die Klage ist die Daseinsform der taz. Als Nörglerin verkannt verbinden | |
> sich in ihr Hass und Liebe, und mit etwas Glück wird etwas Vollkommenes | |
> daraus. Eine Betrachtung. | |
Bild: Der taz in Sachen Klage noch voraus: Niobe, die nach dem Tod ihrer Kinder… | |
Wer für die taz schreibt, begibt sich in die Rolle des Berufsnörglers. Das | |
ist natürlich ein Satz, der in der taz selbst schon Anlass gibt zur | |
Nörgelei. Die einen werden sich sagen: Stimmt doch gar nicht, die anderen: | |
Es hätte mit Blick auf das Anliegen des Feminismus besser heißen sollen: | |
"in die Rolle der Berufsnörglerin". | |
Als Drittes kommt hier noch die Position der Selbstkritik ins Spiel. Das | |
Nörgeln darf recht verstanden ja nicht vor der eigenen Person halt machen, | |
vor Fragen wie: Ist das nicht ein Schmarrn, den ich da wieder mal | |
geschrieben habe? | |
So müsste beispielsweise auch hier eingeräumt werden, dass Nörgeln das | |
falsche Wort ist, völlig unangemessen mit seinem miesepeterigen Beiklang, | |
als ginge es einer allzeit übellaunigen taz nur darum, immer alles schlecht | |
zu machen. Wo es doch in Wahrheit um die Sorge geht! | |
Die taz sorgt sich beispielsweise um unsere Städte, um die Menschlichkeit, | |
um Demokratie, um Kunst und Natur. Die Sprache, die aber die Sorge spricht, | |
ist die Klage. Alles und jedes wird also beklagt. Das liest sich dann | |
schnell so: Hamburg wird Tag für Tag hässlicher und langweiliger, Bremen | |
ärmer, die NPD umtriebiger. Tag für Tag wird auch Niedersachsen mit | |
"Abschiebeminister Schünemann" inhumaner, und die Kunst mehr zum Event, | |
nicht zu vergessen die Schweinswale in der Ostsee: Die werden immer | |
weniger. Das sind jetzt nur die Grundlinien, die das Feld der Klage | |
abstecken, längst nicht ihre schönsten Spielzüge. | |
Das Hamburger Schanzenfest zum Beispiel: Erst gab es der taz Anlass, über | |
Polizeibrutalität zu klagen, in den letzten Jahren dann über apolitische | |
Krawalltouristen aus dem Speckgürtel, die das Fest kaperten. Sollten die | |
Jungs aus Pinneberg und Winsen-Luhe aber zu ihren Spielkonsolen | |
zurückkehren, wird zu beklagen sein, dass auf dem Schanzenfest nichts mehr | |
los ist. | |
Oder der derzeitige Abstiegskandidat der Fussballbundesliga, der HSV. | |
Einmal angenommen, er stiege ab. Dann hat die Klage leichtes Spiel, die | |
Bosse sind schuld, das fortwährende Trainerverheizen. Stiege der HSV aber | |
nicht ab, wäre die taz der einzige Ort, an dem trotzdem eine Klage denkbar | |
ist: dass dem Verein den Abstieg gut getan hätte. Und überhaupt, dass alle | |
Mannschaften schon mal in der zweiten Liga gewesen seien, nur der HSV | |
nicht, was doch eine Beleidigung wäre jedes auch nur halbwegs gesunden | |
Gerechtigkeitsempfindens … | |
Auch nicht schlecht ist die Sache mit der Energiewende. Über Atom-und | |
Kohlekraftwerke wurde schon immer geklagt, nun aber auch über das, was sie | |
ersetzen kann: die Offshore-Windkraftanlagen. Das sind nämlich wahre | |
Massenvernichtungswaffen, die Vögel schreddern und Schweinswalen das Gehör | |
nehmen - und zu allem Überfluss immer dort aufgebaut werden, wo sich die | |
meisten dieser Tiere tummeln. Oder, um ein letztes Beispiel zu nennen (für | |
dessen Richtigkeit ich als Autor einstehen kann): Erst klagt die taz über | |
die furchtbare Gentrifizierung. Dann klagt sie nicht minder furchtbar über | |
diejenigen, die sich dagegen engagieren. | |
Unterscheiden ließen sich dabei zwei Arten von Klagen. Die einen haben | |
einen einfachen Grund und ein klares Ziel. Sie halten dazu an, einen | |
Missstand auszuräumen, eine falsche Vorstellung durch eine richtige zu | |
ersetzen, einen erkannten Fehler bitte nicht zu wiederholen. Wir könnten | |
das die pragmatische Klage nennen. Es ist die vernünftigste Art zu klagen. | |
Die zweite Art der Klage wäre die leidenschaftliche, eine, die dazu | |
tendiert, über ihr Ziel hinauszuschießen. Das ist die schönste Art der | |
Klage. | |
Meist ist die leidenschaftliche Klage ihrem Gegenstand innig verbunden, in | |
Liebe, in Hass, manchmal in beidem zugleich. In diesem Fällen steigert sich | |
das, was dem pragmatischen Blick nur eine Kleinigkeit, eine Harmlosigkeit | |
oder Ungeschicklichkeit zu sein scheint, für den Klagenden sofort ins | |
Riesenhafte, Ungetüme und Maßlose. Was nicht nur unterhaltend ist, sondern | |
auch aufschlussreich. Eine solche Klage ist nicht unmittelbar auf Lösung | |
aus. Eher sucht sie einen Streit zu beginnen, fortzusetzen oder zu | |
vertiefen. | |
Zum einen, weil man bekanntlich voneinander erfährt, wo man sich streitet. | |
Und zum anderen, weil der Streit mit seinem Beharren auf unüberbrückbare | |
Differenzen das beste Mittel gegen eine gefährliche, totalitäre Verlockung | |
ist: der des Verschmelzens und der Vereinheitlichung, die überall wirkt, wo | |
Menschen zusammen kommen. | |
Diese beiden Klagen-Typen führen aber noch zu einem Dritten. Sie haben die | |
Neigung, sich, zusammengenommen, nicht etwa zu addieren, sondern zu | |
multiplizieren und potenzieren. Mit dem Ergebnis, dass die Welt schlechthin | |
als Unzumutbarkeit erscheint. | |
Berechtigt ist daher die Frage, was die Leser mit diesen Klagen machen. | |
Oder anders gefragt, was die Klagen mit den Lesern machen. Die | |
allereinfachste und zugleich raffinierteste Antwort, die mir dazu einfällt, | |
hat mir einmal meine Großmutter gegeben. Sie sagte (das war bevor sie | |
beklagte, die Buchstaben seien in der taz so klein gedruckt, sie könne nur | |
noch die Überschriften entziffern. Nicht das Schlechteste, wandte ich ein, | |
aber es half nichts, und sie bestellte ihr Abonnement kurz nach ihrem 98. | |
Geburtstag ab), meine Großmutter also sagte: "Ach, die taz, die macht mich | |
ja manchmal so traurig." Aber wie sie das sagte! Wie sie dabei strahlte! | |
Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass hier jene Katharsis eine Rolle | |
spielt, die Aristoteles in der Lust an der Tragödie am Werk sah. Beim Lesen | |
oder auch Schreiben der taz überkommt uns der große Jammer und Schauder - | |
und gereinigt von diesen Affekten schreiten wir fürbass in den Tag. | |
Schöner aber noch ist ein Gedanke Adornos (der heute, leider, leider, kaum | |
noch gelesen wird und auch im taz-Universum schon mal mit dem härtesten | |
Verdikt belegt wird, das unsere Zeit aufzubieten hat: unsexy!). In den | |
Minima Moralia schreibt er auf der letzten Seite, dass "die vollendete | |
Negativität, einmal ganz ins Auge gefasst, zur Spiegelschrift ihres | |
Gegenteils zusammenschießt". Ist das nicht herzerwärmend? | |
Die taz macht uns an manchen Tagen mit vollendeter Negativität traurig. | |
Aber wir sehen durch diesen Tränenschleier, gleichsam verklärt, was uns | |
alles lieb ist, was wir schätzen, achten, und fürs Höchste halten. Und wir | |
können dann nicht anders als zu lächeln, zu strahlen, zu hoffen, zu feiern | |
- und zu klagen wie zuvor. | |
29 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Maximilian Probst | |
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