# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Die Welt in einem Laib Brot | |
> In den nächsten 20 Jahren wird der Brotpreis weltweit um 90 Prozent | |
> steigen, sagen die Experten. Ein Lehrstück über unser tägliches | |
> Grundnahrungsmittel. | |
Bild: Ägypten ist der größte Weizenimporteur der Welt. | |
Was kann uns ein einfaches Brot über die Welt mitteilen? Weit mehr, als wir | |
uns vorstellen. Das hat einen schlichten Grund. Ein Brot lässt sich "lesen" | |
wie die Kernprobe einer Bohrsonde, die verschiedene Schichten unserer | |
krisenverhärteten Weltwirtschaft abbildet. Anders formuliert: Am Brot | |
lassen sich die wichtigsten Konfliktlinien der Weltpolitik aufzeigen, bis | |
hin zu den Ursachen des "arabischen Frühlings", der seine Fortsetzung in | |
einem Sommer der sozialen Unruhen gefunden hat. | |
Beginnen wir mit den Fakten: Zwischen Juni 2010 und Juni 2011 hat sich der | |
Weltmarktpreis für Getreide nahezu verdoppelt, was für viele Regionen | |
unserer Erde eine Katastrophe ist. Im selben Zeitraum wurden mehrere | |
Regierungen gestürzt, kam es in vielen Hauptstädten – von Bischkek bis | |
Nairobi – zu gewaltsamen Protesten und in mehreren Ländern wie Libyen, | |
Jemen, Syrien und Sudan zu neuen Bürgerkriegen. Neuerdings rebellieren | |
sogar die Beduinenstämme auf der Sinai-Halbinsel gegen die ägyptische | |
Interimsregierung und errichten Straßensperren, die sie mit bewaffneten | |
Posten absichern. | |
Bei all diesen Konflikten hatten die ersten Proteste mehr oder weniger mit | |
dem Preis des besagten Brotlaibs zu tun. Und auch wenn man bei diesen | |
Unruhen nicht von Ressourcenkonflikten im wörtlichen Sinne sprechen kann, | |
war ihr Auslöser doch die Brotfrage. | |
Brot gilt seit jeher als Grundstoff des Lebens. In weiten Teilen der Welt | |
ist es das Grundnahrungsmittel schlechthin, denn nur der tägliche Laib Brot | |
bewahrt Milliarden Menschen vor dem Verhungern. Bevor wir jedoch die | |
weltpolitische Lage von einem Laib Brot ablesen können, gilt es die Frage | |
zu beantworten: Was genau ist eigentlich in diesem Laib enthalten? | |
Natürlich Wasser, Salz, Hefe, und vor allem Weizen. Daraus folgt, dass mit | |
anziehenden Weltmarktpreisen für Weizen auch der Preis für einen Brotlaib | |
steigt – und die Wahrscheinlichkeit von Protesten. | |
Wer allerdings meint, dass sich Brot nur aus diesen materiellen | |
Bestandteilen zusammensetzt, hat von der modernen globalen Agrarwirtschaft | |
nichts verstanden. Mit der Mechanisierung hat sich anstelle der Arbeit auf | |
dem Feld die Fabrikarbeit durchgesetzt. Die Heerscharen von Bauern, die | |
früher das Getreide von Hand aussäten und die Ernte einbrachten, sind | |
längst durch Industriearbeiter ersetzt, die Traktoren und Erntemaschinen | |
herstellen. Und ohne Substanzen wie Dieseltreibstoff, chemische | |
Pflanzenschutzmittel und Stickstoffdünger, die allesamt aus Rohöl gewonnen | |
werden, könnte man kein Getreide erzeugen, verarbeiten oder über alle | |
Kontinente und Ozeane transportieren. | |
## Mit Hightech über den Acker | |
Ein weiterer wesentlicher Bestandteil des Brots ist der Faktor Arbeit, wenn | |
auch nicht unbedingt in der Form, die man sich vorstellt. Seit die | |
Mechanisierung die Landarbeiter verdrängt hat, kommt Arbeitskraft auf dem | |
Kornfeld fast nur noch in Form von Technologie zum Einsatz. Heute kann ein | |
einziger Arbeiter am Steuer eines riesigen, 300.000 Euro teuren Mähdrescher | |
sitzen, der täglich 750 Liter Diesel verbraucht, durch | |
GPS-Navigationssysteme gesteuert wird und der pro Stunde 8 Hektar aberntet. | |
Das entspricht einer Tagesernte von bis zu 300 Tonnen. | |
Der nächste Faktor ist das Geld: Unseren Brotlaib würde es ohne | |
Kapitaleinsatz nicht geben, denn der Produzent muss vorweg Saatgut, Dünger, | |
Treibstoff, den Mähdrescher und alles weitere kaufen. Noch massiver dürfte | |
der indirekte Einfluss sein, den das Geldkapital auf den Preis unseres | |
Brotlaibs ausübt. Wenn im globalen Finanzsystem zu viel liquides Kapital in | |
Umlauf ist, beginnen Spekulanten die Preise der verschiedensten Güter und | |
Rohstoffe in die Höhe zu treiben, und das betrifft auch die genannten | |
Bestandteile des Brots. Derartige Spekulationen lassen natürlich die Sprit- | |
und Getreidepreise steigen. | |
Für weitere entscheidende Zutaten sorgt die Natur: Sonnenlicht, Sauerstoff, | |
Wasser, nährstoffreicher Boden, alles zur rechten Zeit und in der richtigen | |
Menge. Hinzu kommt noch ein – inzwischen unübersehbar gewordener und nicht | |
ganz naturgegebener – Faktor: der Klimawandel. Er schlägt erst allmählich | |
voll durch und wird sich als zunehmend destabilisierend erweisen, indem er | |
die künftige Versorgung des Markts mit Brot dramatisch gefährdet. | |
Wenn das Zusammenspiel dieser Faktoren den Brotpreis in die Höhe schießen | |
lässt, kommt die Politik ins Spiel. Wie etwa bei der Rebellion in Ägypten, | |
dem zentralen Ereignis des „arabischen Frühlings“. Ägypten ist der größ… | |
Weizenimporteur der Welt, Algerien und Marokko liegen nur knapp dahinter. | |
Es sei auch daran erinnert, dass der arabische Frühling in Tunesien begann, | |
wo steigende Lebensmittelpreise, die hohe Arbeitslosigkeit und die | |
wachsende Kluft zwischen Reichen und Armen zu gewaltsamen Straßenunruhen | |
führten, die den autokratischen Herrscher Zine Bin Ali aus dem Land fegten. | |
Dessen letzte Handlung war das feierliche Versprechen, die Preise von | |
Zucker, Milch und Brot zu senken. Aber das war "too little too late". | |
## Rapider Anstieg der Weizenpreise | |
Kurz darauf begannen die Proteste in Ägypten, und die algerische Regierung | |
genehmigte zusätzliche Getreideimporte, um die wachsende Unruhe über die | |
Nahrungsmittelpreise abzufangen. Der Brotverbrauch der Ägypter ging | |
aufgrund des teurer gewordenen Weizens (in der zweiten Jahreshälfte 2010 um | |
70 Prozent) deutlich zurück. Die Ökonomen sprechen in einem solchen Fall | |
von "price rationing", einer "vom Preis erzwungenen Rationierung". Der | |
Trend setzte sich das ganze Frühjahr 2011 über fort. Im Juni 2011 lag der | |
Einkaufspreis für Weizen 83 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Im selben | |
Zeitraum war der Maispreis sogar um 93 Prozent gestiegen – Ägypten ist der | |
viertgrößte Maisimporteur der Welt.(1) | |
Mit dem rapiden Anstieg der Weizen- und Maispreise war für die | |
Armutsbevölkerung in Ägypten nicht nur ihr Lebensstandard, sondern ihr | |
Leben überhaupt in Gefahr, weil die Preissteigerungen auch gewaltsame | |
politische Auseinandersetzungen zur Folge hatten. | |
In Ägypten leben 20 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut, das heißt, | |
sie haben weniger als den Gegenwert von einem US-Dollar pro Tag zur | |
Verfügung. Die Regierung muss 14,2 Millionen Menschen (bei einer | |
Gesamtbevölkerung von 83 Millionen) mit subventioniertem Brot versorgen. Im | |
Lauf des Jahres 2010 stiegen die Preise für Grundnahrungsmittel um mehr als | |
20 Prozent. Für die ägyptische Durchschnittsfamilie war das eine schwere | |
Belastung, muss sie doch 40 Prozent ihres dürftigen Einkommens für die | |
tägliche Ernährung ausgeben. | |
Vor diesem Hintergrund macht sich Weltbankpräsident Robert Zoellick große | |
Sorgen, dass der nächste Schock die Welternährung in eine tiefe Krise | |
stürzen wird. Dass eine solche Krise unmittelbar bevorsteht, hat eindeutig | |
ökologische Ursachen. Die wichtigste ist der Klimawandel: Überall auf der | |
Welt entstehen immer häufiger extreme Wetterlagen, die verheerende Folgen | |
für die Landwirtschaft haben. | |
Sehen wir uns an, was das konkret für unser Brot bedeutet: Im Sommer 2010 | |
kam es in Russland, einem der größten Weizenexporteure der Welt, zur | |
schlimmsten Dürre seit hundert Jahren. Die extreme Wetterlage, auch | |
Schwarzmeerdürre genannt, führte nicht nur zu verheerenden Waldbränden, | |
sondern ließ auch das Ackerland austrocknen. Die Schäden für die | |
Weizenernte waren so gravierend, dass die russische Führung – zur großen | |
Freude westlicher Getreidespekulanten – ein einjähriges Exportverbot für | |
Weizen verhängte. Die Folge war ein rasanter Preisanstieg. | |
## Spekulation mit dem Klimawandel | |
Im selben Jahr kam es in Australien – ebenfalls ein wichtiger | |
Weizenexporteur – zu furchtbaren Überschwemmungen. Im Mittleren Westen der | |
USA und in Kanada beeinträchtigten schwere Regenfälle die Maisernte. Und | |
die Jahrhundertflut in Pakistan, die ein Fünftel des Landes unter Wasser | |
setzte, verschreckte die Märkte und ließ die Spekulanten frohlocken. | |
In ebendieser Situation schossen in Ägypten die Lebensmittelpreise erneut | |
in die Höhe. Die anschließende Krise – ausgelöst unter anderem durch den | |
teurer gewordenen Laib Brot – mündete in den Aufstand, der das | |
Mubarak-Regime zu Fall brachte. Die Ereignisse in Tunesien und Ägypten | |
strahlten auch auf das Nachbarland Libyen aus, wo der Ausbruch des | |
Bürgerkriegs zur Intervention der Nato führte, was den fast vollständigen | |
Ausfall der libyschen Ölproduktion von täglich 1,4 Millionen Barrel zur | |
Folge hatte. Das ließ den Preis für Rohöl auf bis zu 125 Dollar pro Barrel | |
ansteigen, was wiederum eine neue Spekulationswelle auf den | |
Nahrungsmittelmärkten auslöste, die den Getreidepreis weiter in die Höhe | |
trieb. | |
In den letzten Monaten hat sich die Lage kaum entspannt. Die Ernten in | |
Kanada, den USA und Australien haben unter weiteren schweren | |
Überschwemmungen gelitten. Auch in Nordeuropa hat die unerwartete | |
Trockenheit im Frühjahr die Getreideproduktion beeinträchtigt. Die | |
wachsende Nachfrage, höhere Energiepreise, zunehmende Wasserknappheit und | |
vor allem die chaotischen Klimaveränderungen treiben das | |
Welternährungssystem in die Krise, wenn nicht den Zusammenbruch. | |
Und das ist nur der Anfang, sagen die Experten. Sie gehen davon aus, dass | |
der Brotpreis in den nächsten zwanzig Jahren um bis zu 90 Prozent steigt. | |
Die absehbaren Folgen wären weitere Unruhen und Proteste, mehr | |
Verzweiflung, verschärfte Wasserkonflikte, noch mehr Migration, Ausbrüche | |
ethnisch und religiös motivierter Gewalt bis hin zu Bürgerkriegen, eine | |
wachsende Bedrohung der Handelswege durch Räuberbanden und Piraten. Und | |
womöglich auch – wie die Vergangenheit lehrt – zahllose neue Interventionen | |
durch imperiale oder auch regionale Mächte. | |
Und wie reagieren wir auf die Krise, die sich da zusammenbraut? Gibt es | |
eine breite internationale Initiative, um die Armen dieser Welt mit | |
Grundnahrungsmitteln zu versorgen, oder anders gesagt, um einen | |
erschwinglichen Preis für unseren Laib Brot festzusetzen? Wir kennen die | |
traurige Antwort. | |
Aber dafür werden andere aktiv: Großkonzerne wie Glencore (weltweit größter | |
Rohstoffhändler mit Sitz in der Schweiz) und das von der Öffentlichkeit | |
kaum beachtete Familienunternehmen Cargill (weltweit größter Händler mit | |
Agrargütern mit Hauptsitz in Minneapolis, USA) sind eifrig dabei, ihre | |
Herrschaft über den Weltgetreidemarkt abzusichern. Zugleich betreiben sie | |
die vertikale Integration ihrer weltumspannenden Versorgungsketten in Form | |
eines neuen Nahrungsmittelimperialismus, der darauf angelegt ist, das | |
globale Elend zum eigenen Vorteil auszubeuten. Während im Mittleren Osten | |
die Brotfrage zu einem Auslöser von Kriegen und Revolutionen wurde, konnte | |
Glencore dank explodierender Getreidepreise Extraprofite machen. Kurzum: Je | |
teurer ein Laib Brot wird, desto mehr Geld können Multis wie Glencore und | |
Cargill scheffeln – eine grauenvolle Art der "Anpassung" an die Klimakrise. | |
Fußnote: | |
(1) Zu den fünfzehn größten Maisimporteuren gehören auch Algerien, Syrien, | |
Marokko und Saudi-Arabien. | |
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke | |
© Agence Globale, für die deutsche Übersetzung [1][Le Monde diplomatique, | |
Berlin] | |
3 Oct 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.monde-diplomatique.de | |
## AUTOREN | |
Christian Parenti | |
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