# taz.de -- 100-jähriger läuft Toronto Marathon: Tornado mit Turban | |
> Fauja Singh ist der bisher älteste Marathonläufer. Seine Karriere begann | |
> mit 89 Jahren, ein Jahr später knackte er bereits den Rekord für über | |
> 90-jährige. | |
Bild: Sport macht glücklich: Fauja "Turbaned Tornado" Singh beim Training. | |
Kurze, recht schnelle Schritte, die Körperhaltung etwas gebückt, der Rücken | |
ein wenig krumm. Bei einer seiner Trainingseinheiten in einem Park in | |
Ilford, Ostlondon, lässt Fauja Singh auf den ersten Blick nicht erwarten, | |
dass er noch über besonders lange Distanzen laufen kann. | |
Die Falten auf der Haut und der lange graue Bart verraten, dass Singh ein | |
alter Mann ist. Aber es funktioniert, für mindestens 42 Kilometer, wie der | |
in Indien geborene Brite erst vor zwei Wochen bewiesen hat. | |
Als Fauja Singh am Nachmittag des 16. Oktober den Toronto Waterfront | |
Marathon beendete, waren seit dem Start acht Stunden, elf Minuten und fünf | |
Sekunden vergangen und ein neuer Weltrekord aufgestellt. Als erster | |
100-Jähriger hat Singh die Ziellinie eines Marathons überquert. | |
Mit einem gelben Turban auf dem Kopf ging der Sikh müde ins Ziel. Begleitet | |
von einem Tross Unterstützer, Musik seiner indischen Heimat aus den | |
Lautsprechern und Dutzenden Kameras hinter der Ziellinie. In die Mikrofone | |
sagte Singh: "Diesen Rekord aufzustellen ist für mich so, wie noch einmal | |
zu heiraten." | |
Das hat er nicht einfach so gesagt. Wenn Fauja Singh heute seine Laufschuhe | |
schnürt, um durch den Londoner Regen zu joggen, ist das meist der Höhepunkt | |
seines Tages, wie er sagt. Der Sport halte ihn jung. Gegen die Jahre auf | |
dem Buckel könne man ja nichts tun, gegen körperlichen und mentalen Verfall | |
aber schon. | |
"So lange du dein Alter ignorierst und dich körperlich fit hältst, bist du | |
in guter Form", pustet Singh beim Laufen und achtet dabei auf einen | |
gleichmäßigen Schritt. In Form ist der Mann allemal. Diesen Sonntag wartet | |
in Frankfurt am Main der nächste Marathonauftritt auf ihn, wo er als | |
Stargast zumindest einen Teil der Strecke laufen wird. Darauf bereitet er | |
sich gewissenhaft vor. Einige Meilen gehen, ein paar Parkrunden laufen, | |
dehnen. | |
## Laufen gegen die Traurigkeit | |
Mehr als fünfzig Jahre hatte Fauja Singh keinen Sport getrieben. Am 1. | |
April 1911 wurde er in einfache Verhältnisse als Sohn einer Bauernfamilie | |
im Punjab, Nordindien, geboren. Das Laufen wurde Singhs Hobby, mit Freunden | |
verabredete er sich zu Wettläufen. "Das war unsere kindliche | |
Ausgelassenheit", lächelt er. Seiner Leidenschaft ging Fauja Singh noch | |
viele Jahre nach, bis 1947, dem Jahr der Unabhängigkeit Indiens von der | |
britischen Krone. "Indien war damals ruiniert und musste sich neu ordnen. | |
Wir hatten andere Probleme, als joggen zu gehen." | |
Hinzu kam die Familie. Sechs Kinder zog Fauja Singh auf, zudem habe er auf | |
dem Bauernhof immer genug Arbeit gehabt. Der Tod seiner Frau und eines | |
seiner Söhne markierte einen Einschnitt. "Ich war unglücklich und suchte | |
nach etwas, das mir wieder Freude bereiten könnte. Ich erinnerte mich an | |
das Laufen." | |
Singh zog zu seinem Sohn nach London, wo er mit 81 Jahren wieder mit dem | |
Laufen begann. Ohne ein Wort Englisch lesen oder schreiben zu können, | |
vertraute sich Singh der Londoner Sportszene an, begann mit | |
Mittelstreckenwettkämpfen über fünf und zehn Kilometer. Als er auch einen | |
Halbmarathon geschafft hatte, wollte er den Marathon angehen. | |
Sein Trainer Harmander Singh, der im Park an einem Baum lehnt, lacht: | |
"Fauja kannte den Unterschied zwischen Meilen und Kilometern nicht. Er | |
dachte, von den 21 Kilometern beim Halbmarathon zu den 26 Meilen eines | |
Marathons sei es kaum noch ein Unterschied. Er wollte sofort anfangen." | |
## Zehn Meilen am Tag | |
Nach einem Jahr lief Singh im Alter von 89 Jahren seinen ersten Marathon, | |
drei Jahre später, 2003 in Toronto, stellte er mit 5:40:01 Stunden den | |
Weltrekord für über 90-Jährige auf. Der älteste Läufer der Welt war Singh | |
aber noch nicht, dafür fehlten ihm noch sechs Jahre. "Eigentlich dachte ich | |
schon bei meinem ersten Marathon, dass es keinen Älteren als mich gibt." | |
Als die Trainingseinheit in die letzte Parkrunde geht, sagt Fauja Singh, er | |
habe während keines Laufs gezweifelt, dass er die Ziellinie überqueren | |
würde. 2003 in New York war der wohl härteste Wettkampf: "Das war nur | |
einige Wochen nach meiner Bestzeit in Toronto, ich ging müde ins Rennen, | |
mit Gelenk- und Wadenproblemen. Alles tat weh." Die Zeit von mehr als | |
siebeneinhalb Stunden war eine Enttäuschung. "Fauja wollte nie wieder | |
laufen", erinnert sich Trainer Singh. | |
Aber der "Turbaned Tornado", wie Fauja Singh mittlerweile durch den Titel | |
seiner in diesem Sommer in Indien erschienenen Biografie genannt wird, kam | |
schon ein Jahr später zurück. Den Londoner Marathon beendete er in sechs | |
Stunden und sieben Minuten. "Ich brauche heute etwas länger als damals, | |
aber ich komme jedes Mal im Ziel an, das ist mir am wichtigsten." | |
Sein Trainingsumfang hat sich über die Jahre nicht verändert, nur die | |
Einteilung. "Früher lief Fauja mehr und ging weniger. Heute geht er mehr, | |
läuft deutlich weniger. Aber es sind noch immer zehn Meilen jeden Tag." | |
Kurz vor Toronto hat Fauja Singh zudem Weltrekorde auf acht verschiedene | |
Kurz- und Mittelstrecken aufgestellt. Für die Zukunft hat er "keine | |
besonderen Wünsche". | |
Nach der Trainingseinheit streift er eine lange Hose über seine Schuhe und | |
flüstert müde lächelnd etwas auf Pundjabi zu seinem Trainer, damit dieser | |
übersetzt: "Vielleicht schaffe ich noch einen oder zwei Marathons, | |
vielleicht mehr. Bis ans Ende meines Lebens will ich laufen." | |
28 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Felix Lill | |
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