# taz.de -- die wahrheit: Verstimmte Schurken | |
> Best of Wahrheit: Die Kartoffel-Affäre der Zwillinge Kaczynski. | |
Bild: Die Kaczynski-Zwillinge Lech und Jaroslaw als kindliche Schauspieler 1962… | |
Neben dem großen Konferenzraum im Berliner Redaktionsgebäude der taz hängt | |
ein Schwarzes Brett. Dort werden alle vom Ausschnittdienst gesammelten | |
Artikel aus anderen Zeitungen angepinnt, die taz-Geschichten zitieren. Wie | |
alle Ressorts ist die Wahrheit stets ordentlich vertreten, doch im Juli | |
2006 bordete das Brett über. | |
Zeitungen aus aller Welt berichteten über die Wahrheit und ein Stück, das | |
sich mit dem polnischen Präsidenten Lech Kaczynski beschäftigte: "Polens | |
neue Kartoffel" (taz v. 26. 6. 2006). Der nationalkonservative Politiker | |
war im Jahr zuvor zum polnischen Staatsoberhaupt gewählt worden, während | |
sein Zwillingsbruder Jaroslaw im Juli 2006 als Ministerpräsident vereidigt | |
werden sollte. | |
Geschrieben hatte die satirische Polemik der Göttinger Wahrheit-Autor Peter | |
Köhler, der übrigens mit einer bahnbrechenden Arbeit über den Nonsens als | |
literarische Kategorie promoviert hatte. Die Satire stammte aus einer | |
Serie, die nun schon drei Jahre lief: "Schurken, die die Welt beherrschen | |
wollen". | |
Köhler parodierte darin den Verlautbarungstonfall offizieller | |
Politikerbiografien. Erstes Opfer war der "brutalstmögliche Roland Koch" im | |
Jahr 2003, aber auch Saddam Hussein oder George "Son of a" Bush oder Jürgen | |
"Jumbo" Trittin wurden behandelt und verarztet. | |
Köhlers schärfste Waffe ist bis heute die Phrasensprengung, er zerlegt eine | |
Redewendung oder Floskel in ihre Bestandteile und setzt sie dann mit | |
verwandten Elementen neu zusammen. So kommen dann Formulierungen zustande, | |
dass Otto Schily "vom Finger im Getriebe zur Schraube im Staat" wurde oder | |
dass Ursula von der Leyen "die Ellenbogen am rechten Fleck sowie ein | |
Dauerlächeln im Vordergesicht" hat. | |
Diese komische Dekonstruktion der Sprache verstehen manche humorfernen | |
Kollegen nicht - wie zum Beispiel die Mitarbeiter des Spiegel, und so | |
landeten Zitate Köhlers bereits mehrfach im "Hohlspiegel", der eigentlich | |
unfreiwillig komische Fehlleistungen von Journalisten abbilden soll. Dass | |
Köhlers Katachresen, also schiefe Sprachbilder, bewusst als Stilmittel der | |
Komik eingesetzt werden, geht über den Horizont des Hamburger | |
Sturmgeschützes. | |
Im Fall Kaczynski wählte die Redaktion bewusst den Kartoffel-Titel in | |
Anlehnung an Satiren der achtziger Jahre über den seinerzeitigen Papst | |
Johannes Paul II., der von der Neuen Frankfurter Schule nur "die polnische | |
Kartoffel" genannt wurde. Jetzt waren "Polens neue Kartoffeln" | |
herangewachsen, und die knollige Metapher schien Lech Kaczynski und seinen | |
Bruder Jaroslaw fast noch mehr zu wurmen als die Anspielung auf ihre | |
Mutter, bei denen einer der Zwillinge damals noch wohnte, was ihn zum | |
Muttersöhnchen machte. | |
Nach einer eilig von offizieller Seite angefertigten, fehlerhaften | |
Übersetzung ins Polnische war der Teufel los im Warschauer | |
Präsidentenpalast. Das polnische Staatsoberhaupt ging sogar so weit, ein | |
Treffen des sogenannten Weimarer Dreiecks am 3. Juli 2006 abzusagen, | |
angeblich könne er "wegen einer plötzlichen Magenverstimmung" nicht zum | |
Termin mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und der deutschen | |
Kanzlerin Angela Merkel erscheinen, hieß es. Kaczynski aber war schlicht | |
beleidigt und hob die eher harmlose Satire auf eine höhere diplomatische | |
Ebene. | |
Er forderte eine offizielle Entschuldigung des deutschen Außenministers | |
Frank-Walter Steinmeier, der das absurde Ansinnen mit dem Verweis auf die | |
in Deutschland herrschende Pressefreiheit selbstverständlich ablehnte. Als | |
die Geschichte zum Aufmacher in der abendlichen "Tagesschau" vom 3. Juli | |
2006 wurde, hatte die Wahrheit endgültig eine "Staatsaffäre" ausgelöst, wie | |
die taz am 5. Juli 2006 auf der Seite eins titelte. | |
Ohne den Vorgang allzu nationalküchenpsychologisch erklären zu wollen, | |
lässt sich die Sicht der Kaczynskis ungefähr so darstellen: Nach ihrer | |
bäuerlich-konservativen Ideologie, die direkt aus den fünfziger, wenn nicht | |
dreißiger Jahren ins neue Jahrhundert transportiert worden zu sein scheint, | |
ordneten die Kaczynski-Brüder den satirischen Angriff auf das polnische | |
Staatsoberhaupt als Teil einer angeblichen publizistischen Kampagne der | |
deutschen Medien gegen die polnische Nation ein. | |
Dazu gehörte die vermeintlich wieder gewonnene Stärke der deutschen | |
Vertriebenenverbände unter Führung der unsäglichen Erika Steinbach, aber | |
auch die immer wieder auftretende Gedankenlosigkeit deutschsprachiger | |
Medien, die von "polnischen Konzentrationslagern" schrieben, wenn sie die | |
auf dem Gebiet Polens liegenden Todeslager des Dritten Reichs meinten, was | |
von den verblüffend ignoranten Kaczynskis und ihrem Gefolge als Versuch der | |
Entschuldung der deutschen Täter gesehen wurde. | |
Nichts davon hatte mit Köhlers Wahrheit-Satire zu tun. Dennoch setzte | |
Kaczynski seine Truppen zumindest sinnbildlich in Marsch. Wegen Beleidigung | |
ermittelte die "Prokuratura Okregowa", die Bezirksstaatsanwaltschaft, | |
Warschau gegen den Autor und die verantwortlichen Redakteure, die unter der | |
Hand gewarnt wurden, in nächster Zeit besser nicht nach Polen zu reisen. | |
Man hätte an der Grenze verhaftet werden können, denn "wegen einer Tat aus | |
dem Artikel 135 Paragraf 2 des Strafgesetzbuches", wie der | |
Bezirksstaatsanwalt "hochachtungsvoll" schrieb, drohte eine nicht geringe | |
Strafe. | |
Das weltweite Echo war enorm, das Ausschnittbrett in der taz bog sich unter | |
der Flut der Zeitungsschnipsel. Um den Autor zu schützen, der bei solchen | |
Geschichten aus Sicherheitsgründen prinzipiell aus der Schussrichtung | |
gehalten wird, gab der verantwortliche Wahrheit-Redakteur eine | |
Stellungnahme nach der anderen ab und war plötzlich überall auf Sendung: | |
live in den Nachmittagsnachrichten von N24; als Interviewpartner für in- | |
und ausländische Radiostationen; für das dänische und holländische | |
Fernsehen sowie für den afrikanischen Dienst von Deutsche Welle TV. | |
Zeitungen aus aller Welt wie die New York Times, India Daily, Gulf Times, | |
der Sydney Morning Herald oder auch das Borneo Bulletin ließen ihre | |
Korrespondenten über den bizarren Skandal berichten, die Resonanz auf das | |
"Potato-Gate" (The Atlantic Times) war immens - besonders in Polen. Gerade | |
die polnischen Leserbriefe vermittelten eher einen positiven Tenor im | |
Nachbarland: Die Kaczynskis müssten lernen, dass sie keine absolutistischen | |
Herrscher sind und ihre Kritiker nicht wegen Majestätsbeleidigung verfolgen | |
könnten. | |
Und was war des Ende des Spottliedes? Hat der Text über die Medienrezeption | |
hinaus eine spürbare Wirkung erzielt, gar Veränderungen bewirkt? Wohl kaum. | |
Die Geschichte wurde in ein Kartoffelkochbuch aufgenommen ("60 Rezepte und | |
Geschichten rund um die bunte Knolle"). Und nach einem Jahr wurden am 7. | |
12. 2007 die Ermittlungen in Warschau stillschweigend eingestellt. Auch | |
eine Beschwerde beim Deutschen Presserat wurde 2007 als unbegründet | |
zurückgewiesen. | |
Und Lech Kaczynski selbst? Der "Enterich", wie sein Spitzname in Polen | |
lautete, ist inzwischen tot, im Jahr 2010 stürzte er mit einer | |
Regierungsmaschine in Russland beim Anflug auf Katyn, den mystischen Ort | |
der polnischen Geschichte, ab. Nihil nisi bene - nichts Schlechtes über die | |
Toten soll man sagen, heißt es, und das gilt auch an dieser Stelle. | |
Dafür behalten wir uns alles Entsprechende für die Lebenden vor. Treibt | |
doch Lechs Zwillingsbruder Jaroslaw immer noch sein Unwesen in der | |
polnischen Politik und hält wahlweise die Russen oder die Deutschen für die | |
größten Übeltäter seiner Zeit. Lassen wir ihm diesen Glauben. Er wird der | |
polnischen Spaßbremse auch in Zukunft wenig nützen. | |
15 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
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