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# taz.de -- Aramäer: Das Dorf Mzizah in Delmenhorst
> Die ersten kamen als Gastarbeiter, der Rest ist geflohen. Eine neue
> Heimat fanden die Christen aus dem Dorf Mzizah im Osten der Türkei in
> Delmenhorst. Dort lebt die größte aramäische Gemeinde Niedersachsens.
Bild: Zur Vesper in der aramäischen St. Johannes-Kirche erscheinen auch die Fr…
DELMENHORST taz | Es ist Montagnachmittag, das Kreuz der St.
Johannes-Kirche in Delmenhorst funkelt golden. Auf dem Kirchhof steigen
junge Männer in verwaschenen Jeans und Sonnenbrillen aus glänzenden Autos.
Daneben unterhalten sich Großväter in staubbleichen Anzügen in einer
Sprache, die rau klingt und fremd und von der es heißt, dass sie schon
Jesus gesprochen habe.
Hier versammelt sich die größte aramäische Gemeinde Niedersachsens -
zumindest die Männer. Es sind syrische Christen, die in ihrer Heimat, der
Türkei, nicht als Minderheit anerkannt sind. Die meisten kommen aus dem
kleinen Dorf Mzizah im Osten des Landes, nahe der syrischen Grenze. 370
Familien leben derzeit in Delmenhorst. Mit über 2.000 Aramäern ist die
Gemeinde eine der größten Deutschlands.
Musa Yakhub ist einer von ihnen. Soll er auf Deutsch erzählen, wird es
allerdings schwierig. Die Sprache des Landes, in dem er seit über 40 Jahren
lebt, spricht der 76-Jährige nur gebrochen. Die Jungen helfen ihm, sich zu
verständigen. Zu dritt übersetzen sie das, verfallen immer wieder ins
Aramäische, diskutieren untereinander, während Yakhub Deutsch zu reden
versucht.
Als junger Mann ging Yakhub von Mzizah nach Istanbul. "Im Dorf war keine
Arbeit", er dreht die Perlen eines zierlichen Gebetskettchens zwischen
seinen runden Fingerkuppen. Damals war Mzizah noch ein aramäisches Dorf,
etwa 130 christliche Familien lebten dort. Heute sind es gerade mal fünf.
Die Häuser der Fortgegangenen stehen entweder leer oder werden von den
neuen Bewohnern - Kurden oder Türken - als Lagerräume genutzt.
In Istanbul wurde Yakhub 1969 für die Norddeutsche Wollkämmerei und
Kammgarnspinnerei (Nordwolle) aus Delmenhorst angeworben. "Da war eine
große Halle und der Chef der Wollfabrik hat uns da ausgewählt", erinnert er
sich.
Heute hat Yakhub fünf Kinder und mehr als zwei Dutzend Enkel in
Deutschland. "Auch eine Doktorin ist dabei", wirft einer der jungen
Übersetzer ein. Dauerhaft zu bleiben, habe Yakhub eigentlich nicht
vorgehabt. Über die Rückkehr in die Türkei denke er manchmal nach, zuhause
sei er aber in Delmenhorst. Gut sei er hier behandelt worden, sagt er immer
wieder.
Die meisten Aramäer sind nicht als Gastarbeiter gekommen, sondern aus der
Türkei geflohen. Tur Abdin, der Gebirgszug in der Provinz Mardin, wo auch
Mzizah liegt, wird traditionell auch von Kurden bewohnt. Als in den 1980er
Jahren der Konflikt zwischen der türkischen Regierung und den PKK-Rebellen
ausbrach, geriet das kleine Volk der Aramäer zwischen die Fronten.
Auch Iskender Sen hat in Deutschland Asyl gesucht. In Mzizah wäre der Mann
mit den grau melierten Haaren und dem sorgfältig gestutzten Oberlippenbart
vielleicht Bürgermeister: Sein Bruder ist der antiochenische
Patriarchalvikar von Deutschland. Sen selbst ist erster Vorsitzender im Rat
der St. Johannes-Kirche - und Lokalpolitiker. Als erster Aramäer ist er
2006 in den Delmenhorster Stadtrat eingezogen.
Zwei Tage später, an einem Mittwoch, ist Kirchenratssitzung, doch die
Ratsmitglieder lassen auf sich warten. Nur Sen und ein weiterer Mann finden
sich auf dem großen Parkplatz vor der Kirche ein. Stolz zeigt der
Vorsitzende sein Gotteshaus: 700 Leute hätten darin Platz, einen großen
Festsaal gebe es auch, erzählt Sen, als er die Räume aufschließt. 2001
wurde die St. Johannes-Kirche eingeweiht, bezahlt haben sie Spender. "Sie
kamen von überall her", sagt Sen.
Auch ein kleines Klassenzimmer hat in der Kirche Platz gefunden. Hier
lernen Jungen und Mädchen mithilfe einer einfachen grünen Schiefertafel
nachmittags ihre Muttersprache. "Die Aramäer haben viele Kinder", sagt Sen.
80 jugendliche Messdiener gebe es, 70 Mädchen sängen im Kirchenchor.
"Mädchen dürfen keine Messdienerinnen werden", erklärt Sen, als er den
Altarbereich in der Kirche zeigt. Nach syrisch-orthodoxem Brauch dürften
Frauen den Bereich nicht betreten und Männer nur barfuß. "Unsere Kirche",
sagt Sen, "ist die strengste überhaupt."
Die meisten Jugendlichen kennen Sen nur als "den Trainer" - er coachte
jahrelang die aramäische Fußballmannschaft des SV Tur Abdin. Im
Gemeinschaftsraum glänzen silbern und golden die vielen Pokale des Vereins.
"Wir spielen auch gegen türkische Fußballmannschaften, natürlich", sagt
Sen. Auf dem Fußballplatz würden aber schon lange keine politischen
Konflikte mehr ausgetragen. "Auch, wenn es am Anfang ziemlich Krach gab."
"Es gibt da das Verlangen, unbedingt zu gewinnen im Sport", sagt der
29-jährige Musa Kilic über das Spiel zwischen türkischen und den
aramäischen Fußballmannschaften. Kilic ist in Mzizah geboren, mit acht
Jahren kam er nach Deutschland, auch seine Familie hat in Delmenhorst Asyl
gefunden. Die Tradition sei bei ihnen wichtig, sagt er, die meisten
heirateten innerhalb der eigenen Gemeinde. "Es gab aber inzwischen einige
gemischte Hochzeiten." Erst kürzlich habe ein Freund von ihm eine Polin
geheiratet.
Was Mädchen und Frauen angeht, so hätten sie viele Freiheiten, sagt Kilic.
Im Kirchhof am Nachmittag sieht man sie allerdings nicht. "Bei uns wird die
Frau als die Krone des Hauses gesehen", sagt er.
An einem Samstagnachmittag im Oktober ist der Parkplatz vor der St.
Johannes-Kirche voller Autos. Weitere rollen heran. Es ist Zeit für das
Abendgebet, die Vesper. Aus den Wagen steigt der Teil der Gemeinde, den man
als Fremder nicht oft zu sehen bekommt: Mütter mit Mädchen an der Hand, das
Haar zu dicken Zöpfen geflochten. Großmütter in langen Röcken, fast alle in
Schwarz.
Die Jüngeren sind oft modern, manchmal auch gewagt gekleidet. Jeans, Röcke,
aufwendige Frisuren und auch kniehohe Schnürstiefel bekommen Einlass in das
Gotteshaus. Ein Attribut darf aber auf keinen Fall fehlen: das Kopftuch.
Schwarz oder mit bunten Mustern für die Älteren, weiß und aus Tüll für die
Jungen.
In der Kirche sitzen Frauen und Männer getrennt. "Das ist eben so", sagt
eine junge Aramäerin. Fast könnte man vergessen, dass die Männer auch hier
sind - sie sitzen nur in der linken Bankreihe. Bis der Gesang losgeht.
Rechts und links vom Altar singt jeweils eine Gruppe Männer die Gebete.
Ihre Stimmen tönen durch das Kirchengewölbe, zwischendurch liest der
Pastor, ein junger Messdiener verteilt Weihrauch. Das Kreuz über dem Altar
leuchtet, auch die ultramarinblauen Fresken an der Wand, von denen Engel
und Jesus auf die Gläubigen schauen, leuchten. Ein Kind quengelt, eine alte
Frau nickt ein. Junge Mädchen tauschen Blicke über Kirchenbänke hinweg.
Hier hat es sich versammelt, das Dorf Mzizah aus dem Osten der Türkei,
Provinz Mardin. Deutschland und Delmenhorst sind in diesem Moment in den
Hintergrund gerückt, ausgeblendet, untergegangen im langen, aramäischen
Gebet.
15 Nov 2011
## AUTOREN
Julia Rotenberger
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