# taz.de -- Neuer Film von Andreas Dresen: "Zum Glauben brauch ich keine Kirche" | |
> In seinem Film "Halt auf freier Strecke" geht es um Krebs und Tod. Sich | |
> damit zu beschäftigen, sagt Regisseur Andreas Dresen, kann befreien. | |
Bild: Regisseur Andreas Dresen hat einen Film über das Tabu-Thema Tod gemacht. | |
taz: Herr Dresen, es war nicht einfach, während des Films die Tränen | |
zurückzuhalten. Aber das hören Sie wahrscheinlich von Vielen? | |
Andreas Dresen: Im Kino gibt es nichts Schlimmeres als Gleichgültigkeit. | |
Ich will im Kino lachen und weinen, ein Stück Leben teilen mit den Figuren, | |
denen ich dort begegne. Wenn ich dann spüre, dass unser Film Menschen | |
berührt, dann ist das etwas Wunderbares. Andererseits soll der Film ja auch | |
nicht niederschmettern. | |
Hatten Sie Angst, dass die Zuschauer in Scharen das Kino verlassen? | |
Es wird sicherlich passieren, dass der eine oder andere diesen Film nicht | |
aushalten kann. Aber damit muss man bei diesem Thema rechnen. Der Tod ist | |
ein Teil vom Leben. Indem wir uns immer nur ums Sterben drücken, ist | |
niemandem geholfen. Früher oder später trifft es jeden. Wir zeigen etwas, | |
das wir tief in unserem Inneren verschließen und sehr fürchten. Aber wenn | |
man diese Tür doch mal aufmacht, kann das etwas sehr Befreiendes sein. So | |
ging es uns auch beim Drehen. Wir haben nach und nach eine Art schwarzen | |
Mantel abgeworfen. | |
Bei Ihrem Film "Wolke 9" ging es um Liebe und Sex im Alter, bei "Halt auf | |
freier Strecke" geht es nun um den Tod. Lieben Sie Tabus? | |
Das Tabu entsteht immer von außen. Wenn man ältere Leute befragt, stellt | |
man sehr schnell fest, dass die meisten noch Sexualität leben. Auch der Tod | |
ist nur ein Tabu, weil unsere Gesellschaft ihn ausschließt. Ich gehe nicht | |
durch die Welt und denke darüber nach, was ich denn noch für ein Thema | |
aufgreifen könnte, damit alle empört aufschreien. Eher ist es so, dass | |
bestimmte Themen zu mir finden. | |
Wie denn? | |
Ich werde älter, die Einschläge kommen näher. Im Freundeskreis sterben | |
immer mehr Freunde und Verwandte. Außerdem habe ich eine schwere Trennung | |
hinter mir. Dann habe ich gemerkt, dass es kaum Filme gibt, die vom Sterben | |
erzählen, wie ich mir das wünschen würde. Es gibt wahnsinnig viele Tote auf | |
der Leinwand, aber selten sterben sie so, wie es die meisten in ihrem | |
Alltag erleben. Der Tod wird meist in viel Sentimentalität und falsches | |
Pathos verpackt. Oder es geht um Quantität. Also darum, wie viele Menschen | |
man in einem Film umbringen kann. | |
Ihr Film beginnt mit einer Szene, wie man sie aus der Krankenhausserie | |
kennt. Ein Arzt eröffnet seinem Patienten, dass er nicht mehr lang zu leben | |
hat. Was macht diese Szene trotzdem so besonders? | |
Das war verrückt. Ich wollte diese Szene am Anfang genau aus diesen Gründen | |
nicht drehen. Dann fand ich aber, dass die Schauspieler diese Szene erlebt | |
haben sollten. Und ich wollte es auch erleben. Wir haben also einen realen | |
Arzt gefragt, Dr. Uwe Träger, Chefneurochirurg am Potsdamer Klinikum Ernst | |
von Bergmann. Herr Träger war bereit, dieses Gespräch vor laufender Kamera | |
mit den Schauspielern zu führen. Er führt diese Gespräche in der Realität | |
zwei- bis dreimal die Woche, an ebendiesem Schreibtisch, in ebendiesem | |
Raum. | |
Die Schauspieler haben den Arzt vor laufender Kamera kennengelernt, und das | |
Gespräch dauerte vierzig bis fünfzig Minuten. Es war erschütternd. Es war | |
so, wie ich es mir überhaupt nicht vorgestellt hatte. Ich fand diesen Arzt | |
im höchsten Maße beeindruckend. Er war sachlich, aber auch voller Empathie. | |
Seine Unsicherheit und Hilflosigkeit waren immer zu spüren. Er gibt seinem | |
Gegenüber viel Raum. Er lässt lange Pausen, die viele, viele Sekunden lang | |
sind. Und dann fragt er ganz oft nach, ob das, was er gesagt hat, | |
verstanden wurde. | |
Denken Sie, er hat während des Drehs anders agiert, weil eine laufende | |
Kamera im Raum war? | |
Nach dem Dreh hat er mir gesagt, dass er das alles immer genauso macht. Er | |
kommt nicht gleich mit der ganzen Wahrheit, antwortet aber auf alle Fragen. | |
Er sagt jedem, was er wissen will, was er also verkraften kann. | |
Aber nicht nur dieser Arzt ist beeindruckend. Auch die Schauspieler, Milan | |
Peschel und Steffi Kühnert als Frank und Simone Lange, sind mitreißend. | |
Ich war so aufgewühlt, dass ich schon beim Drehen merkte, dass diese Szene | |
in den Film gehört. So hatte ich das noch nie gesehen. Herr Träger hatte | |
mir am Vortag gesagt, dies sei kein Ort der großen Emotion. Die meisten | |
seiner Patienten reagieren nach so einer Diagnose erst einmal vollkommen | |
paralysiert. Das hatte ich den Schauspielern vorher auch gesagt, damit sie | |
nicht das Gefühl haben, dass sie sonst etwas zeigen müssen. Steffi hat also | |
versucht, ihr Heulen zu kontrollieren. Dadurch entstand ein wahnsinniger, | |
kraftvoller, archaischer Moment. Sie sitzt ganz still da, und die Tränen | |
fließen einfach aus ihr raus. | |
Steffi Kühnert schafft es nicht, Milan Peschel anzusehen. | |
Milan schaut mal zu Steffi, aber Steffi schaut ihn nicht an. Hinterher | |
sagte sie, sie konnte nicht. Solche Szenen sind Geschenke. | |
Stand von Anfang an fest, dass Sie diesen Film improvisiert drehen wollten, | |
also ohne Drehbuch - so wie Ihre vorherigen Filme "Halbe Treppe" und "Wolke | |
9"? | |
Ja, denn es gibt bestimmte Themen, die dafür geeignet sind. Mit | |
Improvisation, kleinen Konstellationen und zarten Mitteln kommt man dem | |
Alltag am besten bei. Wir wollten das Thema nicht mit zu viel Dramaturgie | |
überladen. Darum hat der Film auch gar keinen Plot und keine Wendepunkte. | |
Man weiß vom ersten Moment an, wie er endet. | |
Es ist wichtiger, wie etwas gesagt wird, als was gesagt wird? | |
Genau. In der Zusammenfassung klingt der Film wie eine völlig banale, | |
fünftausendmal erzählte Allerweltsgeschichte. Es geht aber im Film darum, | |
dicht an die Figuren und an den Alltag heranzukommen. Der Ton muss | |
überraschend sein. Es darf nie sentimental oder kitschig werden. | |
Wie erreichen Sie das? | |
Bei dieser Arbeitsweise ist es nahezu unmöglich, mit Schauspielern falsche | |
Töne zu produzieren. Gemeinhin hat man mit Schauspielern die Aufgabe, einen | |
Drehbuchtext so klingen zu lassen, als wäre er in diesem Moment gedacht und | |
gesagt worden. Das gelingt manchmal, und manchmal gelingt es nicht. Bei der | |
Improvisation gibt es keine auswendig gelernten Wiederholungen. Alles wird | |
wirklich zum ersten Mal gedacht und auch gesagt. | |
Warum wirken Ihre Schauspieler so authentisch kleinbürgerlich? | |
Das hat mit Recherche zu tun. Wir beschäftigen uns intensiv mit dem Milieu. | |
Steffi hat gelernt, Straßenbahn zu fahren. Sie hat sich mit | |
Straßenbahnfahrerinnen getroffen. Wir arbeiten uns heran. Es ist so, als ob | |
man ein Gefäß mit ganz viel Material und Leben auffüllt, und in dem Moment, | |
wo man anfängt zu drehen, ist die meiste Arbeit getan. | |
Warum haben Sie es so sehr mit dem kleinbürgerlichen Milieu? | |
Weil es so selten vorkommt im Film. Es ist einfacher, von sehr reichen oder | |
sehr armen Menschen zu erzählen. Die meisten Leute in meinen Filmen haben | |
einen ganz normalen Alltag, es passiert wenig Spektakuläres. | |
Ihr Film kommt sehr echt und dokumentarisch daher, ist aber trotzdem | |
Fiktion. | |
Wir suggerieren natürlich auch nur, dass wir näher an der Wirklichkeit | |
sind. Wir manipulieren. Im Kino gibt es keine Authentizität. Wer | |
Authentizität will, der soll auf die Straße gehen. Wenn man Glück hat, dann | |
kann man im Kino die Wahrheit sehen. Aber die ist von Menschen gemacht. Für | |
diese Wahrheit haben eine ganze Menge Leute vor und hinter der Kamera sehr | |
hart gearbeitet. | |
Das Ende Ihres Films ist ebenfalls sehr versöhnlich. | |
Der Film mündet in einer sehr friedfertigen Situation. Die Tränen sind | |
geweint, und es wird still. Es gibt eine Totale, und man tritt zurück. Man | |
weiß gar nicht genau, wann Frank Lange denn jetzt genau stirbt. Das geht | |
Vielen so, die dabei sind, wenn ein Angehöriger stirbt: dass sie gar nicht | |
genau sagen können, wann der Tod eingetreten ist. | |
Sind Sie Atheist? | |
In meinem Beruf ist es schwer, an nichts zu glauben, dafür passieren zu | |
viele Dinge, die so besonders und überraschend sind. Oft findet man die | |
besten Sachen am Wegesrand. Aber ich brauche für meinen Glauben keine | |
Kirche. | |
Hat der Tod einen Sinn? | |
Natürlich! Man muss sich doch nur mal vorstellen, man wäre unsterblich! Man | |
würde doch völlig orientierungslos durch die Gegend latschen! Die | |
Limitierung ist ein Motor. Und wir machen Platz für Neues. Das ist | |
Evolution. | |
Das Sterben Ihrer Figur ist trotzdem total sinnlos. | |
Es ist Schicksal. Niemand ist schuld an dieser Krankheit. Hat Frank Lange | |
zu wenig Tomaten gegessen? Ist er zu wenig Fahrrad gefahren? Nö. Es gibt | |
einfach Dinge, die wir nicht verstehen und kontrollieren können. | |
17 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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