# taz.de -- Twitter-Projekt zum Zweiten Weltkrieg: Panzerschlachten in der Time… | |
> Wie lebten Menschen während des Zweiten Weltkrieges? Der Twitter-Stream | |
> @RealTimeWWII versucht, Geschichte erlebbar zu machen. Eins zu eins, | |
> sechs Jahre lang. | |
Bild: Andere Form der Erinnerungskultur: Parade zum Gedenken an das Ende des Zw… | |
BERLIN taz | Früher Vormittag, der 30. November. Am Himmel über Helsinki | |
tauchen neun sowjetische Flugzeuge auf. Bomben werden abgeworfen, 40 | |
Menschen sterben. Gleichzeitig überqueren mehr als 500.000 Soldaten der | |
Roten Armee die finnische Grenze – mit 1.000 Panzern. Wenige Stunden zuvor | |
war in Berlin "Führer Direktive #9" ausgegeben worden: ökonomische | |
Kriegsführung gegen England. | |
Der Himmel über Berlin ist klar, es ist ruhig am 30. November, 72 Jahre | |
später. Doch wer Alwyn Collinson auf Twitter folgt, für den ist der Zweite | |
Weltkrieg nah – und real. Collinson twittert über [1][@RealTimeWWII]. Jeden | |
Tag, sechs Jahre lang. Das ist der Plan. Den Zweiten Weltkrieg | |
nachzuerzählen. Tag für Tag, so, wie es passierte, doch in nicht mehr als | |
140 Zeichen. | |
Für Collinson begann das Projekt am 26. August. Der Oxford-Absolvent, der | |
Marketing für ein Stadtmagazin macht, spielte Ideen durch, was mit Twitter | |
alles möglich sein könnte. Über das unmittelbare Medium eine Geschichte | |
eins zu eins zu erzählen lag nah, etwa nach dem Vorbild der amerikanischen | |
Serie "24". Doch nicht selten haben Tweets bei Usern schon Panik ausgelöst, | |
weil sie für echt gehalten wurden. "So kam ich darauf, etwas zu machen, was | |
real, aber bereits geschehen war: der Zweite Weltkrieg", sagt Collinson im | |
Gespräch mit der taz. | |
"SS-Truppen verkleidet als Polen greifen einen Radiosender in Gleiwitz an, | |
um Deutschlands Angriff auf Polen vorzubereiten", twitterte der 24-jährige | |
Brite am 31. August zum Auftakt seines Projekts. Fast auf die Stunde genau | |
72 Jahre nachdem der Krieg mit Hitlers Angriff auf Polen begann. | |
## 150.000 Follower | |
Seither verschickt der 24-Jährige zehn bis zwölf Tweets am Tag. | |
Faktengetreu, in neutralem Ton. Aber auch Details und Schicksale, die nicht | |
in Geschichtsbüchern zu finden sind. "Sie tragen dazu bei, dass es sich | |
real anfühlt", sagt Collinson. Augenzeugenberichte und Tagebücher sind es | |
neben fundierten Webseiten, Geschichtsbüchern und Tageszeitungen, aus denen | |
er seine Tweets generiert. Die Recherche sei dabei weniger aufwendig, als | |
die kurzen Texte für die einzelnen Tweets zu formulieren. | |
Collinson scheint den Ton zu treffen. Die Zahl seiner Follower steigt | |
kontinuierlich, mittlerweile liegt sie bei über 150.000. Aufmerksamkeit | |
erhielt sein Projekt zu Beginn über einige Blogs. Und schließlich noch | |
einmal am 11. November, in Großbritannien ein Gedenktag für Veteranen des | |
Kriegs. "Es ist erstaunlich, wie viel Feedback ich bekomme", sagt | |
Collinson. Tatsächlich ist er sehr viel erfolgreicher als ähnliche | |
Projekte. | |
@WW2Today, wo ebenfalls der Zweite Weltkrieg nacherzählt wird, hat 2.800 | |
Follower. Der Feed @ukwarcabinet, dessen Quelle Kabinettsdebatten aus der | |
Zeit Churchills sind, hat knapp 7.500 Follower. @WWIIproject aus den USA | |
kommt auf knapp 500 Follower. | |
Collinsons Projekt verbreitet sich immer schneller: Freiwillige haben | |
@RealTimeWWII mittlerweile ins Türkische, Arabische, Portugiesische, | |
Spanische, Russische und Chinesische übersetzt. Holländisch, Französisch, | |
Deutsch und Hindi sind geplant. Die Übersetzer versorgen Collinson darüber | |
hinaus mit Informationen, um den Kriegsverlauf aus allen Perspektiven zu | |
twittern. | |
## Holocaust in Tweets | |
Ziel des Projekts ist es nicht nur, Geschichte interessant aufzubereiten | |
und an sie zu erinnern, sondern auch "ein Gefühl des Schocks und der | |
Unsicherheit auszulösen". Seine Follower sollen einen Eindruck davon | |
bekommen, wie es für Menschen gewesen sein muss, die während des Kriegs | |
gelebt haben. Mit Erfolg. "Ich bekomme viele Tweets von Leuten, die | |
schreiben 'Ich hatte dein Projekt total vergessen und plötzlich dachte ich | |
für eine Sekunde, irgendwo wäre eine Bombe explodiert'", sagt Collinson. | |
Tweets, die das Geschehene auf Augenhöhe vermitteln, werden hundertfach | |
weiterverbreitet. "Simha Roten ist ein Schuljunge in Warschau. Letzte Nacht | |
wurde sein Haus von einer halben Tonne schweren Bombe getroffen, seine | |
Großeltern, seine Tante und sein Bruder Israel, 14, wurden getötet", | |
twitterte @RealTimeWWII am 26. September. | |
Die Kombination aus Einzelschicksalen und der Chronologie der Ereignisse | |
ist es, die Collinsons Projekt faszinierend macht. Es über sechs Jahre | |
hinweg interessant zu halten, wird eine Herausforderung. "Aber das ist der | |
Plan", sagt Collinson. Den Holocaust in Tweets zu verarbeiten, eine ganz | |
andere. "Es kann natürlich passieren, dass Leute bestürzt sind, wenn es um | |
den Holocaust geht, aber ich hoffe, ich verletze niemanden damit", so | |
Collinson, der nichts aussparen möchte. | |
Alles soll, alles muss genannt werden. Die über sechs Millionen Menschen, | |
die im Holocaust starben genau wie eine einzelne, anonyme Stimme. "... | |
Rette deine Mutter, Frau & Kinder vorm Verhungern (…) Der Krieg gegen die | |
gewaltige Rote Armee ist sinnlos und hoffnungslos (danke, Mikael)". 30. | |
November 1939. | |
30 Nov 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://twitter.com/?lang=en&logged_out=1#!/RealTimeWWII | |
## AUTOREN | |
Rieke Havertz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |