# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Nachsicht mit den Frühsozialisten! | |
> Wie man abstrakte Verhältnisse durch Personalisierung und Paranoisierung | |
> erklärt. | |
Zeiten finanzpolitischer Krisen sind - jedenfalls in christlich geprägten | |
Gesellschaften - seit jeher Zeiten der Judenfeindschaft. Ein gutes Beispiel | |
dafür sind die (französischen) Frühsozialisten. Angesichts des aufwendigen | |
Lebensstils und des politischen Einflusses ihrer Familie richteten sich | |
Hass und Misstrauen revolutionärer Sozialisten im Frankreich des 19. | |
Jahrhunderts vor allem gegen die Rothschilds. | |
Charles Fourier (1772-1837) - wohl der erste, der sich als "Feminist" | |
bezeichnete und einen genossenschaftlichen Liebessozialismus anstrebte - | |
prangerte den betrügerischen Bankrott als Ausdruck der bürgerlichen | |
Geldwirtschaft an: Symbol dafür ist bei ihm der erfundene Jude "Judas | |
Iskariot", der in Frankreich landet, seine Konkurrenten mit Dumpingpreisen | |
aussticht, um anschließend die Käufer seiner Waren zu prellen. | |
Der Frühanarchist Proudhon (1809-1865) war der Meinung, dass Eigentum | |
Diebstahl sei, und exterminatorischer Antisemit. Sogar der junge Karl Marx | |
konnte in seiner "Judenfrage" von 1843/44 nicht umhin, Judentum und | |
Geldwirtschaft miteinander gleichzusetzen. 1846 publizierte Alphonse | |
Toussenel (1803-1865) einen Traktat, der mit einer Kritik an der Übernahme | |
einer Eisenbahnlinie durch Baron James de Rothschild einsetzte. | |
Heute, nach dem Holocaust, blicken wir kritisch auf derlei Personen, indes: | |
Sollten wir ihnen nicht Nachsicht entgegenbringen? Waren sie doch | |
angesichts der für sie damals neuen Finanzwirtschaft genauso desorientiert | |
wir. | |
Im soeben vom Innenministerium herausgegebenen Bericht über "Antisemitismus | |
in Deutschland" kann man nachlesen, dass 22 Prozent der befragten Deutschen | |
der Aussage zustimmen, dass Juden zu viel Macht an den internationalen | |
Finanzmärkten haben. Toussenels Buch über die Juden als "Könige der Epoche" | |
hatte den Untertitel: "Eine Geschichte des Finanzfeudalismus". | |
## Reale und virtuelle Wirtschaft | |
Die Melange von Reichtum, Spekulation und Judentum erlebt heute - wenn auch | |
noch in homöopathischen Dosen - eine Renaissance. Das belegt die obsessive | |
Beschäftigung der Süddeutschen Zeitung mit den angeblichen Machenschaften | |
des von ihr als Pseudomäzen geschmähten jüdischen Kunstsammlers und | |
-händlers Heinz Berggruen, aber auch der Umstand, dass "Finanzfeudalismus" | |
zu einem ernsthaften Thema der Sozialwissenschaft wird. Häufig richten sich | |
kritische Blicke auf Personen wie Josef Ackermann, die gleichsam persönlich | |
für die Krise verantwortlich sein sollen. | |
Klammert man beim Antisemitismus seine Judenfeindschaft ein, so zeigt sich | |
ein konkretistisches Weltbild, das abstrakte, systemische Verhältnisse | |
durch Personalisierung, Moralisierung und Paranoisierung zu erhellen | |
versucht. Da will Oskar Lafontaine das "Casino" - wohl im Gegensatz zur | |
Arbeitsplätze schaffenden "Fabrik" - schließen, da werden im Munde Franz | |
Münteferings Hedgefonds zu "Heuschrecken". | |
Feinsinnig wird zwischen "realer" und "virtueller" Wirtschaft | |
unterschieden, so dass man fragen möchte, ob die Ware Geld, die es ja schon | |
länger gibt, zur realen oder zur virtuellen Wirtschaft gehört. Gerne wird | |
die "Gier" angeprangert und "Mäßigung" gefordert; Unterscheidungen, die | |
allesamt an eine deutsche Ideologie der 1930er Jahre erinnern: die | |
Entgegensetzung vom "schaffenden" arischen und "raffenden" jüdischen | |
Kapital. | |
Bei alldem geht eine Einsicht des späten Marx verloren, dass das "Kapital" | |
mehr als nur die Wirtschaftsform "Kapitalismus" ist, nämlich ein | |
grundlegendes soziales Verhältnis, das in der widersprüchlichen "Einheit | |
von Aneignungs- und Verwertungsprozess" besteht. Das eine lässt sich ohne | |
das andere politisch weder kontrollieren noch verändern. | |
5 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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