# taz.de -- Videokünstler Aernout Mik: Das Ritual der Unterwerfung | |
> Aernout Mik wandelt auf dem schmalen Grat zwischen Imagination und | |
> Wirklichkeit. Die Retrospektive im Essener Museum Folkwang wird so zu | |
> einem Suchspiel. | |
Bild: Aernout Mik: An welcher Stelle genau wird eigentlich die Grenze zum Surre… | |
Wer die Retrospektive des niederländischen Videokünstlers Aernout Mik | |
betreten will, die zurzeit im Museum Folkwang in Essen zu sehen ist, der | |
muss sich zunächst einmal entscheiden. | |
Anstelle eines einzigen Eingangs öffnen sich dort sogleich zwei. Sie liegen | |
direkt nebeneinander, sehen vollkommen gleich aus und leiten in zwei | |
parallel geführten Tunneln jeweils zur Ausstellung. | |
Unterwegs sind die beiden schwach beleuchteten Gänge durch Fensterscheiben | |
miteinander verbunden. Und man fragt sich unwillkürlich, ob es auf der | |
jeweils anderen Seite vielleicht doch mehr zu sehen gegeben hätte. | |
So hat sich der Besucher schon beim Betreten des Ausstellungssaals in einem | |
Suchspiel verfangen, das eines deutlich macht: Die versammelten zehn | |
Videoinstallationen stehen auf schwankendem Boden und werden sich nicht so | |
rasch auf eine eindeutige Wahrnehmung festlegen lassen. | |
Seit bald zwei Jahrzehnten gehört Aernout Mik, geboren 1962 im | |
niederländischen Groningen, zu den herausragenden Videokünstlern unserer | |
Zeit. Sein Werk gilt der Nachhaltigkeit des flüchtigen Videobildes. Fast | |
immer verzichtet Mik bei der Einrichtung seiner Bildsequenzen auf eine | |
Tonspur. Doch nicht nur deshalb sind seine Videos das Gegenteil von | |
Geschwätzigkeit. | |
## Als Bildhauer ausgebildet | |
Als Betrachter ist man zum Schauen einer Anordnung von Bildern bestellt, | |
die auf großen, mehrteiligen Leinwänden als stummer Strom vorüberfließen. | |
Dass der Künstler ursprünglich einmal als Bildhauer ausgebildet worden ist, | |
lässt sich kaum übersehen: Seine Screens treten dem Betrachter als | |
raumgreifende Tableaus gegenüber und machen in unterschiedlichen | |
Bild-Architekturen immer neu darauf aufmerksam, dass Video mehr sein kann | |
als ein Fenster, das sich auf die sichtbare Welt hin öffnet. | |
Am augenfälligsten ist dies gewiss in der Installation "Organic Escalator" | |
von 2000, die in Essen erstmals in Deutschland zu sehen ist. Das hier | |
gezeigte Stürzen und Fallen einer Menschenmenge auf einer überfüllten | |
Rolltreppe - im Loop dehnt sich dies zu einem endlosen Taumeln - erzeugt | |
Schwindelgefühle nicht allein wegen des chaotischen Bildinhalts. | |
Geschuldet ist dies auch den umgebenden Wänden der Videokoje, die | |
unmerklich in einer pulsenden Bewegung vor und zurück fahren und so | |
fortgesetzt in die äußeren Koordinaten unserer Wahrnehmung eingreifen. Das | |
ohnehin schon bewegte Bild der Videoprojektion wird auf diese Weise genauso | |
subtil wie effektvoll ein weiteres Mal dynamisiert. | |
## Repräsentative Auswahl von zehn Arbeiten | |
Doch auch abseits solcher aufwändigen Installationen ist es ein | |
voraussetzungsreiches Unternehmen, Miks Videoarbeiten zu präsentieren. Am | |
besten gelang dies bisher an Orten, die ihrerseits auf das große Format | |
setzen, etwa im niederländischen Pavillon der Biennale von Venedig, für den | |
Mik 2007 sein Projekt "Citizen and Subjects" produzierte. | |
Der nun in Essen unternommene Aufwand, eine repräsentative Auswahl von | |
insgesamt zehn Arbeiten - die älteste stammt von 1998, die jüngste wurde | |
erst vor wenigen Monaten fertiggestellt - zu zeigen, ist nicht | |
unbeträchtlich. Hat man einen der beiden Eingangstunnel hinter sich | |
gelassen, so betritt man einen Ausstellungssaal, der sich wie zu einer | |
Agora aus lauter Bildern öffnet. | |
Vorgeschrieben wird dem Betrachter hier nichts. Allenfalls so viel: Man | |
sollte sich Zeit nehmen, denn was in den einzelnen Arbeiten sichtbar wird, | |
erschließt sich einem hektischen Besucher, der von Leinwand zu Leinwand | |
eilt, wohl kaum. So zeigt "Touch, Rise and Fall", 2008 entstanden, zunächst | |
kaum mehr als Allzuvertrautes: Gegenstand dieser Arbeit ist jenes elende | |
Schauspiel der Flughafenkontrolle, das längst zu jedem Check-in gehört. | |
Gepäckstücke werden durchleuchtet, geöffnet und durchwühlt, Fluggäste | |
abgetastet und befragt. Bis schließlich einer der Kontrolleure ein | |
Paketmesser zückt, um einen Plüschhasen aufzuschlitzen, während ein anderer | |
mit einer Schere einen Teddybären brutal entkernt. | |
Wenn mit dieser Schaumstoff-Orgie das Bekannte unvermittelt ins Surreale | |
kippt, so stellt sich vor allem eine Frage: An welcher Stelle genau wird | |
eigentlich die Grenze zum Surrealen überschritten? Mik zeigt es deutlich | |
genug: Barfuß und mit dem Hosengürtel in der Hand, von Gummihandschuhen an | |
wirklich jeder Körpergegend abgetastet und demnächst wohl auch noch von | |
Nacktscanner durchleuchtet, hat der Beginn jeder Flugreise ohnehin schon | |
längst den Charakter eines genauso absurden wie zwanghaften Rituals der | |
Unterwerfung angenommen. | |
## Die Inszenierung der Wirklichkeit wird überhöht | |
Ein solches Dokument unserer Willfährigkeit ist das Ergebnis einer | |
Inszenierung, die Mik mit einem Stab von Schauspielern und Laien an einem | |
Filmset einrichtete. Nichts von dem, was man hier sieht, hat sich genau so | |
als reale Szene ereignet. Und doch ereignet es sich tatsächlich genau so | |
Tag für Tag an den Flughäfen dieser Welt. Dieser schmale Grat zwischen | |
Imagination und Dokument ist es, den Mik auf immer neue Weise in seinen | |
Videoarbeiten ausschreitet. Indem die Inszenierung die Wirklichkeit | |
überhöht, wird sie zu einem umso machtvolleren Zeichen für ebendiese | |
Wirklichkeit. Was man sieht, ist gerade deshalb wahr, weil es erfunden ist. | |
Dass eine solche mit künstlerischen Mitteln unternommene Suche nach | |
Wahrheit vor allem aber eine politischen Sinn besitzt, führt die Essener | |
Retrospektive großartig vor Augen. Die Arbeit "Communitas" von 2010, die | |
zugleich der ganzen Ausstellung den Namen gibt, scheint von der Gegenwart | |
dieser Tage auf erstaunliche Weise eingeholt worden zu sein. Wir werden | |
hier Zeugen der Besetzung des Warschauer Kulturpalasts durch eine anonyme | |
Menschenmenge. Einzig ihr Kampfruf "Okupacja" müsste neuerdings durch | |
"Occupy" ersetzt werden. | |
Und kaum anders verhält es sich mit der eigens für diese Ausstellung | |
produzierten Arbeit "Shifting Sitting". Gedreht wurde im Frühjahr dieses | |
Jahres kaum mehr als ein Sehnsuchtsbild: Silvio Berlusconi - von seinem | |
brillant agierenden Doppelgänger Maurizio Antonini gespielt - wird vor | |
Gericht zur Verantwortung gezogen. Aber vielleicht ist ja schon bald der | |
Augenblick gekommen, da ein Videokünstler der Wirklichkeit den Weg gewiesen | |
haben wird? | |
Aernout Mik: "Communitas". Museum Folkwang Essen, bis 29. Januar 2012. | |
Katalog, Steidl Verlag, 32 Euro | |
12 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Steffen Siegel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |