# taz.de -- Aus "Le Monde diplomatique": Die ferne Stimme meiner Tante | |
> Ich telefoniere oft mit meiner Tante. Sie ist als Einzige geblieben und | |
> hütet für uns alle das irakische Haus mit dem Duft nach Muskat, Zimt und | |
> Kumin. | |
Bild: "Liebe allein macht noch keine Heimat": spielende Kinder in Bagdad. | |
Für mich ist es mit der Heimat anders als mit einer Diät: Es reicht nicht, | |
das Fett wegzulassen, damit das Herz wieder funktioniert. Mit dem Alter | |
wird die Krankheit schlimmer. Man setzt sich über den Rat der Ärzte hinweg, | |
tut ihr auch noch selbst weh, dieser Heimat, und macht sich Vorwürfe, weil | |
man sie am Ende verliert. | |
Ich mag das Wort Heimat nicht besonders: Es erinnert mich an etwas, das | |
allmählich immer kleiner geworden ist. Jetzt ist sie weit weg und kann mich | |
nicht mehr täuschen. Ich sage lieber "das Land", dann muss ich nicht an die | |
Menschen im alten und neuen Staat Irak denken, die hinter bewehrtem Beton | |
und amerikanischen Panzern eingesperrt und von einem unterjochten Tiger in | |
Schach gehalten werden. | |
## Monotomie der Heimat | |
Ich habe mich immer gefragt, ob man ein halber Patriot sein kann. Kann man | |
die Sehnsucht, Liebe und Abneigung, die man für seine Heimat empfindet, | |
genauso regulieren wie den Blutzuckerspiegel? Es gibt nichts Erbärmlicheres | |
als einseitige Liebe. Die Liebe eines einsamen Wesens, eines gebrochenen | |
Bürgers, der ins Stottern gerät, wenn er den Namen seines Landes | |
ausspricht. Liebe allein macht noch keine Heimat. Wenn ich mich mit meiner | |
Heimat herumschlage, stoße ich auf viele Fragen, die nichts mit | |
irgendwelchen Konzepten zu tun haben, mich aber immer neu verstören. | |
Es ist sinnlos, Theorien über die Heimat zu entwickeln. Ihre Macht zu | |
entschlüsseln, geht über meine Kräfte. Von der Heimat Vollkommenheit zu | |
erwarten, heißt, uns unserer Menschlichkeit zu begeben. Was aber ist das | |
Geheimnis? Geht es um Gerechtigkeit? Oder ist es, wie bei uns allen, nur | |
der Überdruss an der Heimat? Ja, das ist es, aber selbst dieser Überdruss, | |
den ich so oft in allen Gliedern spüre, hilft mir nicht, mich von ihr zu | |
lösen. | |
Wir haben es nie geschafft, dass unsere Länder uns so lieben, wie wir es | |
gern hätten. So viel ich meinem Land auch hinterhergerannt bin, es war | |
vergebens. Es ist mir nicht gelungen, sein Wesen und seine Gesetze zu | |
verstehen. Ich war und bin immer noch eine Fremde, in meinem Land ebenso | |
wie hier in Frankreich. Ich hatte immer den Eindruck, dass das Land viel | |
außergewöhnlichen Stoff zum Schreiben liefert und dass wir auf seine Kosten | |
und unter seiner Last zugleich leben. | |
Dennoch nutzen wir jeden denkbaren Vorwand, um uns von ihm zu befreien, und | |
wir hören nicht auf, uns im Namen des Landes oder an dem Land oder für das | |
Land zu rächen. Ich sehe noch das Transparent vor mir, das wir in unserer | |
Jugend schwenkten: "Wir werden sterben, und die Heimat wird leben!" Warum | |
sollten die Bürger für ihre Heimat sterben? Ist sie denn tatsächlich eine | |
Aufforderung zur Vernichtung? | |
## Nahe und ferne Zukunft | |
Neulich habe ich vor den anderen zweiundzwanzig Schülern in meinem | |
stockenden Französisch zu unserer Lehrerin Claudia gesagt: "Ich bin | |
eifersüchtig auf die eure beiden Zukunftsformen im Französischen. In meinem | |
Land haben wir nur einen Buchstaben, das 's', das wir vor das Verb setzen | |
müssen, um das Reich der Zukunft zu betreten. Aber sobald der Tyrann, der | |
Besatzer oder der Kollaborateur merkt, dass es diesen Buchstaben gibt, wird | |
das betreffende Verb nie wieder benutzt." | |
Die Schüler brachen in höfliches Lachen aus: Sie dachten, ich wollte | |
scherzen. Ich saß in der ersten Reihe, wegen der Krankheit, an der meine | |
Augen leiden. Nur Claudia sah die Tränen, die sie trübten. Ich habe sie | |
heruntergeschluckt, während sie mir die Schulter tätschelte. "Hab keine | |
Angst, du bist hier, bei uns." | |
In meinem Land wird die Zukunft seit Jahrzehnten mit der Lupe inspiziert. | |
Sie ist einsam geworden und hat ihre Spontaneität verloren. Seit der | |
amerikanischen Besatzung wird sie, glaube ich, vom Volk gänzlich | |
ferngehalten. Mit der Aufforderung, diesen Text zu schreiben, bekam ich | |
einen bitteren Geschmack in den Mund. Ich öffnete die Archive, die über und | |
über mit Blut befleckt sind, Blut, das immer noch jeden Quadratmeter des | |
Irak bedeckt. | |
All die Cliquen erschienen vor meinem inneren Auge: die | |
"Milchschokoladen-Linke" und die Religiösen mit den glänzenden Turbanen; | |
die Bürgerwehren der korrupten Politikerkaste, die stets Bigotterie, | |
Blutrache und Schändlichkeit gepredigt und verbreitet hat, so dass man das | |
Leben schon zu verachten begann, bevor man es lebte; die Irakische | |
Kommunistische Partei, die im Laufe ihrer Geschichte viele Märtyrer | |
verloren hat, sich auf einen Flirt mit dem Saddam-Hussein-Regime einließ, | |
und jetzt, wo sie alt wird und ihre Kader verkalkt sind, masturbiert sie an | |
der Brust des Besatzers und der religiösen Zurechtweisungen. Außerdem gibt | |
es noch ein paar Leute, die sich wie wir heimlich mit unserem Land treffen, | |
es insgeheim lieben und im Verborgenen oder auch öffentlich beschimpfen. | |
Ich habe mich nie für Politik interessiert, auch nicht für | |
Heldengeschichten. Worte wie Held, Märtyrer und Opfer machen mir Angst. Sie | |
haben eine sehr körperliche, tyrannische Macht, die einen krank und | |
fanatisch machen kann. | |
Bagdad ist eine faszinierende Stadt, die dazu verleitet, sie zu verwüsten. | |
Wenige Monate nach der US-Invasion erklärte ein hoher Offizier: "Wir werden | |
aus dieser historischen Hauptstadt einen großen Parkplatz machen." Das war | |
schön gesagt und so klar! Alles kam wie angekündigt. Sie haben nicht mehr | |
Verbrechen verübt als nötig. Denn der Tod bestand in allen blutigen Zeiten, | |
die den Irak je erschüttert haben, darin, dass Köpfe abgeschnitten, | |
gespalten, verbrannt wurden. | |
## Vergangenheitsform | |
Nach dem Unterricht sprachen Claudia und ich noch über den Druck, den die | |
Sprache auf mich ausübt, und den Druck der Heimat, der mir den Atem nimmt. | |
Ich war wie im Todeskampf, zerrissen zwischen dem Verschwinden meines | |
Landes und den Geheimnissen der französischen Sprache, die wie ein Schatz | |
zwischen den stotternden Lauten meiner arabischen Zunge verborgen war. Ich | |
rieb mich auf und sagte mir immer wieder: "Doch, doch, es ist möglich, dass | |
eine alte Dame wie du eines Tages diese Sprache beherrschen wird, die so | |
köstlich zu sein scheint wie ein Glas guter französischer Wein." | |
Doch bis heute stehe ich immer vor demselben Dilemma: Ich habe meine Rache | |
nicht bekommen, und die Sprache hat sich mir nicht unterworfen. Und als | |
Irakerin besitze ich nicht einmal mehr einen Krümel meines fernen Landes, | |
das in tausend Stücke zerspringt. Ich habe mich mit ihm in der Pracht und | |
der Vertrautheit meiner Kindheit verschanzt, die ich nie verlassen habe, | |
bis ins Stolpern meiner Zunge hinein. | |
In Paris bin ich von einer Sprachschule zur anderen gezogen. Ich habe | |
gelernt, vergessen, von vorn angefangen, versagt, bestanden, aufgegeben, | |
weitergemacht … Was habe ich nicht alles auswendig gelernt, geschrieben, | |
zerrissen, habe mich betäubt, betrogen, es noch einmal versucht! Es war, | |
als müsste ich meine eigene Sprache vergessen. Vor dem Einschlafen kam mir | |
in den Sinn, dass das Französische wie ein vornehmer Liebhaber ist, der | |
mein Bett verlassen würde, wenn ich seinen Namen falsch ausspräche. | |
Das Französische hat mich immer wieder im Stich gelassen, und ich bin lange | |
auf demselben Niveau stehen geblieben. Unter anderem deshalb habe ich mich | |
auf mein eigenes Sprachsystem zurückgezogen, das sich tief in meiner | |
vollendeten und unvollendeten Vergangenheit und in meiner mageren und | |
einfachen Zukunft verkrochen hatte. Beide, Vergangenheit und Zukunft, | |
glichen meinem lumpigen Französisch. Trotzdem äußere ich mich immer wieder | |
mit lauter, eloquenter Stimme in dieser Sprache und kämpfe, um sie | |
fehlerfrei zu sprechen. Ich habe mir immer gesagt: "Der Anfang des Satzes | |
wird halbwegs korrekt, die Mitte etwas verquer, egal, aber ich werde | |
zusehen, dass das Ende logisch ist." | |
Eigentlich war die Beziehung zwischen der neuen Sprache und meinem alten | |
Land ganz einfach: Das Erlernen der Sprache raubte mir die Kräfte, genauso | |
wie mein Land. Dass ich mich sprachlich nicht sicher fühlte, machte mir das | |
Leben als Ausländerin schwer. Auch mein Land machte mich unsicher und | |
bedrohte mich. Wer bist du? Woher kommst du? Deine Mutter ist Syrerin, nur | |
dein Vater ist Iraker. Genügt das, um patriotischen Stolz für sich in | |
Anspruch zu nehmen? Was ist deine Blutgruppe? Was ist das Geheimnis deiner | |
Religion? Steht dein Haus immer noch in al-Adhamija? | |
Heute frage ich mich: Was soll ich mit der Heimat machen? Mit der alten, | |
verlassenen, schuldigen, amputierten, und mit der neuen, besetzten, | |
unterwürfigen, unwiederbringlichen. Alles wird manipuliert, Gene, Länder, | |
Glauben. Sogar die Liebe wird über ein virtuelles Netz diktiert. Warum | |
sollte nicht auch die Heimat virtuell sein? | |
## | |
Unser Haus in al-Adhamija ist nicht mehr bewohnbar. Man kann weder darin | |
schlafen noch in seinen Winkeln stöbern. Der kürzeste Weg dorthin führt | |
über meine Kindheit. Ohne sie, die so weit zurückliegt, sehe ich dort | |
nichts. Ein streunender, räudiger Hund jault seinen einstigen Besitzern | |
entgegen, die erst fortgegangen und dann gestorben sind, die verjagt | |
wurden, die geflohen, alt geworden und verschwunden sind. | |
Häuser wussten ihren Bewohnern von jeher Lehren zu erteilen, überall. Auf | |
den Kacheln unseres Hauses in al-Adhamija finde ich jederzeit meinen Hunger | |
und meine Nacktheit, meine Verwandlungen und meine Hingabe wieder. Ich | |
schreibe, ich mache Bücher, aber ich komme immer dorthin zurück und lasse | |
zu, dass sich dieses Haus in mein Leben drängt. In jedem Roman ist es der | |
Kern meines Todeskampfs. Egal, sage ich mir, ich werde wieder aufstehen und | |
meine Festungsmauern neu errichten, um dorthin zurückzukehren. | |
Ich telefoniere oft mit einer Tante, der Einzigen, die dort geblieben ist, | |
sie hütet für uns alle das irakische Haus und die Küche mit dem Duft nach | |
Muskat, Zimt und Kumin. Wenn ich mit ihr spreche, bedrängt mich ihre | |
schwache, verlorene Stimme. Auch sie ist am Ende. Es ist die Stimme dessen, | |
was von der Familie übrig bleibt. Warum hat sie es so eilig, das Gespräch | |
zu beenden? Damit ich nicht so viel Geld ausgebe? Das sagt sie sich, nicht | |
ich. Zugegeben, sie hört nicht mehr gut, und ihre heisere Stimme ist nicht | |
mehr so, wie sie einmal war, denn ihr Leben reicht zurück bis zur falschen | |
Unabhängigkeit des Irak. | |
Doch ich stelle ihr einen Haufen Fragen. Wo schläfst du? Ist in deinem | |
Zimmer immer noch so viel Sonne? Stehen immer noch die hübschen Möbel im | |
Wohnzimmer, die Möbel unserer wilden Kindheit und unserer früh erloschenen | |
Jugend? Wer kommt dich besuchen, liebe Tante? Da schluchzt sie leise und | |
sagt halb scherzhaft: "Weißt du, mein Kind, ich sehe niemanden außer die | |
Ameisen, die in gerader Linie an meinem Kopf vorbei zu ihren Häusern | |
laufen, wenn ich im Bett liege. Ich bin nicht mehr so gut zu Fuß wie | |
früher. Von meinem Zimmer aus sehe ich die Äste fallen, einen nach dem | |
anderen. Sie haben wie wir eine Krankheit, deren Namen niemand kennt. Und | |
die Farbe ist von den Wänden abgeblättert, ihr Fleisch ist nackt, wie unser | |
aller Fleisch." | |
Dann legt sie plötzlich auf. Ich werde aus dem Raum ihrer irakischen Stimme | |
verjagt. Ich rufe immer wieder an, wähle eine Privatnummer, dort, in | |
Bagdad, in al-Adhamija, in diesem Haus, meinem Haus. Aber oft klingelt das | |
Telefon und keiner geht ran. So ist es. Der Ort ist da, verborgen, wie ein | |
ständiger Köder, wir aber, wir existieren dort nicht mehr. | |
## | |
Ich schreibe, lebe, liebe auf Arabisch, auf Arabisch entwickle ich die | |
Handlungen und Dialoge meiner Romanfiguren. Ich lasse nicht zu, dass meine | |
Sprache sich verliert. Paris, die kosmopolitische Großstadt, bringt mich | |
dazu, dass sich meine Figuren in der Freiheit üben, die das Kraftzentrum | |
all meiner Bücher ist. Alles hier zieht mich zur Freiheit hin. Wenn ich | |
schreibe, lasse ich die Männer und Frauen in sie eintauchen und von ihr | |
kosten, und sei es nur ein einziges Mal, denn ich weiß, dass die Freiheit | |
ansteckend ist und uns manchmal den Mut entdecken lässt, den wir unbewusst | |
in uns tragen. | |
In Paris habe ich besser als in allen anderen Städten, in denen ich gelebt | |
habe, verstanden, dass mein Wissen und meine Entscheidungsfreiheit wachsen | |
können und dass die Zukunft immer neue Wahlmöglichkeiten bietet. Hier habe | |
ich die Schönheit meiner Weiblichkeit als langen Weg von Freuden und | |
Chancen empfunden. Hier habe ich meiner Reife und meinem Alter erlaubt, | |
jede Etappe zu genießen. | |
Das Alter wird in der Freiheit intensiver. Ich habe hier meine | |
glücklichsten Momente erlebt. Und dennoch ist es so, wie die Heldin in | |
meinem letzten Roman „Eine pragmatische Liebe“ sagt: „Paris macht dich | |
glücklich, wenn du reich, jung und gesund bist. Ich aber bin nichts von | |
dem.“ | |
Eigentlich bin ich überzeugt, dass ich in mir ein hochverdichtetes Exil und | |
eine äußerst starke Heimat trage, auch wenn meine Bücher in meinem Land | |
seit Jahrzehnten verboten sind. Das ist das Paradox: Dort liegen meine | |
gesamten Reserven verborgen, und trotzdem quälen mich noch immer Gefühle | |
der Schuld – als sei ich eine Verräterin. | |
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz | |
[1][Le Monde diplomatique] vom 9.12.2011 | |
26 Dec 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.monde-diplomatique.de | |
## AUTOREN | |
Alia Mamduch | |
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