Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Drogen im II. Weltkrieg: Wach und heiter und so weiter
> Der zweite Weltkrieg war ein Speedkrieg – von Adolf Hitler bis Heinrich
> Böll waren alle auf "Pervitin". An KZ-Häftlingen wurden die Drogen
> getestet.
Bild: Bis 1945 sollen mehr als 60 Millionen Pillen Pervitin an Soldaten verabre…
Es wirkt sehr schnell. Eben noch müde oder niedergeschlagen, ist man
plötzlich wach und heiter. Hunger und Durst sind wie weggeblasen, obwohl
man jetzt literweise Rotwein trinken könnte, ohne umzufallen. Das Herz
rast, und Wellen wohliger Wärme durchfluten den Körper. Licht wirkt
greller.
Jetzt könnte man die Fassade dort hochklettern oder jede andere aberwitzige
Aufgabe lösen, spielend, so sehr fliegen einem Kraft, Mut und
Geschicklichkeit zu. Das Selbstvertrauen und die Risikobereitschaft steigen
in gefährliche Höhen, zumal die Wirkung einfach nicht nachlassen will.
Davon möchte man auch anderen Leuten gerne ausführlichst erzählen.
Irgendwann stellt sich das erfreuliche, wenngleich trügerische Gefühl
physischer und psychischer Unbesiegbarkeit ein. Es ist ein Wirkstoff mit
dem chemisch nüchternen Namen N-Methylamphetamin, der im Blut diese
erstaunliche Wirkung entfaltet - und das nicht erst seit gestern.
## Betteln um Drogen
Es sind Briefe eines jungen Wehrmachtssoldaten erhalten, der in geradezu
quengeligem Ton die Familie daheim um die Droge anbettelte: "Schickt mir
nach Möglichkeit bald noch etwas Pervitin", schrieb er einmal aus dem
besetzten Polen, oder: "Vielleicht könntet Ihr mir noch etwas Pervitin für
meinen Vorrat besorgen?", denn: "Der Dienst ist stramm, und Ihr müsst
verstehen, wenn ich späterhin Euch nur alle zwei bis vier Tage schreibe.
Heute schreibe ich hauptsächlich um Pervitin … Euer Hein."
Hein, das ist der spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, und
Pervitin war der Markenname von N-Methylamphetamin. Heute spricht man, je
nach Szene und Zusammensetzung, von Meth, Crystal oder einfach Speed. Im
Zweiten Weltkrieg war von "Panzerschokolade", "Stuka-Tabletten" oder
"Hermann-Göring-Pillen" die Rede.
Vor allem bei den blitzartigen Feldzügen in Polen 1939 und in Frankreich
1940 hatten es die Gegner der Wehrmacht mit chemisch aufgeputschten
Soldaten zu tun. Insgesamt sollen bis 1945 mehr als 60 Millionen Pillen
Pervitin an die kämpfende Truppe verabreicht worden sein. Der Zweite
Weltkrieg war ein Speedkrieg.
Erstmals 1893 von einem japanischen Chemiker synthetisiert und 1920 zum
Patent angemeldet, wurde Pervitin als Arzneimittel ab 1938 von der Berliner
Firma Temmler hergestellt. Prompt erfreute es sich auch unter Zivilisten
großer Beliebtheit - als in der Apotheke erhältliche Alternative zur seit
1933 moralisch verpönten Droge der Weimarer Republik, dem Kokain. Und
prompt wurde Pervitin an 90 Fähnrichen der Militärärztlichen Akademie in
Berlin auf seine Kriegstauglichkeit getestet.
## Versuche an KZ-Häftlingen
Versuche mit den sogenannten Weckmitteln gingen bis 1944 weiter, unter
anderem an Sportlern. Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen
wurden mit einem Mix aus Pervitin, Kokain sowie dem Schmerzmittel Eukodal
vollgestopft und auf Gewaltmärsche geschickt, immer im Kreis herum. Hier
ging es vor allem darum, ein Mittel für die Besatzungen der neu
entwickelten Zwei-Mann-U-Boote vom Typ "Seehund" zu finden, die unter
widrigsten Witterungsbedingungen manchmal für Wochen im Ärmelkanal und an
der Themse-Mündung operieren sollten.
In einem ärztlichen Kriegstagebuch findet sich die zufriedene Notiz:
"Eindrucksvoll ist die Verringerung des Schlafes. Bei dieser Arzneiwirkung
sind Veranlagung und Wille weitgehend ausgeschaltet".
Dabei stellte sich rasch heraus, dass das Mittel zwar zur kurzfristigen
Leistungssteigerung eingesetzt werden kann, diese Wirkung aber zum Preis
immer längerer Erholungsphasen unverhältnismäßig teuer erkauft war. Im
Übrigen entging den Nationalsozialisten keineswegs, dass eine allzu
freizügige Ausgabe von Pervitin mit der allgegenwärtigen Propaganda von der
"Volksgesundheit" nicht zu vereinbaren war.
Im März 1940 hielt der "Reichsgesundheitsführer" Leonardo Conti, wie sein
Führer ein Verfechter von Askese und Euthanasie, vor dem
Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund eine Rede zum Thema: "Wer
Ermüdung mit Pervitin beseitigen will, der kann sicher sein, dass der
Zusammenbruch seiner Leistungsfähigkeit eines Tages kommen muss. Dass das
Mittel einmal gegen Müdigkeit für einen Hochleistungsflieger, der noch zwei
Stunden fliegen muss, angewendet werden darf, ist wohl richtig. Es darf
aber nicht angewendet werden bei jedem Ermüdungszustand, der in
Wirklichkeit nur durch Schlaf ausgeglichen werden kann. Das muss uns als
Ärzten ohne weiteres einleuchten."
Gehörte Pervitin anfangs noch zur regulären Sanitätsausrüstung des Heeres,
wurde es schon im Winter 1939 unter "jedesmaligen" Rezeptzwang gestellt.
1941 fiel es endlich unter das Opiumgesetz, auch die Ausgabe an die Truppe
wurde stark eingeschränkt.
In einer Anweisung der Kriegsmarine heißt es: "Jeder Sanitätsoffizier muss
sich darüber im klaren sein, daß er im Pervitin ein sehr differentes und
starkes Reizmittel in der Hand hat, das ihm jederzeit gestattet, bestimmte
Personen seines Wirkungskreises bei der Durchführung übernormaler
Leistungen tatkräftig und wirkungsvoll zu unterstützen; er soll sich aber
auch jederzeit der damit verbundenen Verantwortung bewußt werden".
## Stoff auf beiden Seiten
Doping wurde freilich von allen Parteien an allen Fronten betrieben.
Überliefert ist allein von in England stationierten US-Truppen der Konsum
von zwei Millionen Amphetamin-Pillen, die Briten selbst schworen auf
Benzedrin, und vor allem in Japan - der Heimat des Methylamphetamin - ging
am Ende gar nichts mehr ohne den Stoff.
Nicht nur Paladine wie der Morphinist Göring, auch Adolf Hitler selbst
konnte dem psychischen Druck und den endlosen Lagebesprechungen bald nur
noch dank der täglichen Injektionen seines "Leibarztes" Theo Morell
standhalten. Neben Pervitin enthielten diese Spritzen Eukodal, ein
Morphiumderivat, Ultraseptyl, Mutaflor, Homoseran, Hormone, Organpräparate,
Sulfonamide und ätherische Öle.
Wie beiläufig der Drogenmissbrauch in der Führungsspitze praktiziert wurde,
geht aus einem Tagebucheintrag Joseph Goebbels vom Obersalzberg am 6. Juni
1944 hervor: "Professor Morell hilft mir etwas, meinen ein wenig
entkräfteten Gesundheitszustand aufzubessern. Er ist auch dem Führer in
letzter Zeit gesundheitlich eine große Stütze gewesen. Ich kann das bei
meinem Zusammentreffen mit dem Führer feststellen, der blendend aussieht
und sich in guter Stimmung befindet."
Es kann angenommen werden, dass Hitlers rapider gesundheitlicher Abbau
unter anderem drogeninduziert war. Eine der vielen Langzeitfolgen von Speed
sind übrigens paranoide Zustände, die schnell in Wutanfälle umschlagen.
## Klassische Lastwagenfahrerdroge
Mit dem Ende des Krieges endete indes nicht der Gebrauch der Droge - im
Gegenteil. Pervitin und seine Verwandten wurden zur klassischen
"Lastwagenfahrerdroge". Heimkehrende US-Piloten, schwer süchtig, schlossen
sich zu "Hells Angels" zusammen und organisierten einen schwunghaften
Handel mit Amphetaminen.
In Europa erinnerte man sich vor allem unter Sportlern an die vielen feinen
Mittelchen zur Hochleistungssteigerung. Verbürgt ist beispielsweise, dass
der Tiroler Hermann Buhl 1953 sich bei der Erstbesteigung des Nanga Parbat
selbst mit Pervitin unter die Arme griff - anders wären die Strapazen von
41 Stunden Solo-Klettern nebst ungeschütztem Biwak auf 8.000 Metern Höhe
wohl nicht zu bewältigen gewesen.
Und 1954 besiegte im WM-Finale von Bern die deutsche
Fußballnationalmannschaft mit 3:2 die Ungarn, denen sie noch in der
Vorrunde mit 8:3 unterlegen war - nachdem Mannschaftsarzt Franz Loogen
sämtlichen Spielern zuvor eine rätselhafte Injektion gesetzt hatte.
Angeblich waren alle Spieler kurzfristig an einer Gelbsucht erkrankt.
Im gleichen Jahr kam das Amphetaminderivat Ritalin auf den Markt, das heute
noch gern als "Hirndoping" vor Examen eingesetzt wird. Eben noch müde oder
niedergeschlagen, ist man plötzlich wach und heiter und so weiter und so
weiter …
30 Dec 2011
## AUTOREN
Arno Frank
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.