# taz.de -- Neuer Dancefloor Sound: Gut, wenn es sich falsch anhört | |
> Der Chicagoer Musikstil Juke erobert gerade Europa – so wie andersherum | |
> britischer Dubstep die USA. Beides sind Paradefälle kultureller Aneignung | |
> im Pop. | |
Bild: In Chicago ist die Musikrichtung Juke strikt funktionale Tanzmusik. | |
Der Hype geht manchmal seltsame Wege. Im Sommer 2010 gab es auf den | |
Mixtapes britischer DJs immer diesen einen Moment des Stotterns. Eine | |
Computerstimme sagte "Insane, -sane, -sane", darunter legten sich minimal | |
gehaltene Drumcomputer aus der analogen Vorzeit, die nicht recht in die | |
Geschichte britischer Bassmusik passten. | |
"Footcrab" hieß dieser Track. Und was damals kaum jemand wusste: Er war ein | |
Plagiat, der nicht den Track eines Produzenten plagiierte oder ein | |
bestimmtes Album, sondern gleich ein ganzes Genre – Juke | |
Das Plagiat funktionierte nur so gut, weil Juke das Gesetz des Genres | |
streng befolgt. Über ein Rhythmusgerüst aus alten Roland-Drumcomputern legt | |
sich ein gelooptes Gesangssample, das zerhäckselt, gepitcht und geloopt | |
wird. Diese Monotonie ist Programm – in seiner Heimatstadt Chicago ist Juke | |
strikt funktionale Tanzmusik. | |
"Footworking" nennt sich der dazugehörige Tanzstil und er funktioniert nur | |
im Wettbewerb. Zwei oder mehr Crews stehen sich in Klassenzimmern, leeren | |
Lagerhäusern oder Community-Zentren gegenüber. Machmal wagt sich ein Tänzer | |
in die Mitte und verschränkt kurz die Arme, bevor er in kaum | |
nachvollziehbaren Moves seine Beine zu den mit 160 bpm ratternden Beats im | |
Rhythmus verknotet. | |
Die Musik wurde ausschließlich für diese Battles produziert und ist dennoch | |
verfeinert stilbewusst: Kaum hörbare Codes dokumentieren die Zugehörigkeit | |
zu den einzelnen Vierteln Chicagos. "Auf der West Side haben sie Bassdrum | |
und Clap auf jede Note gesetzt - wir auf der South Side würden das nie | |
tun", erzählt Juke-Legende DJ Spinn im Interview. | |
Über das Internet wurde Juke auch in Europa bekannter. Einzelnen | |
Dance-Battles wurden auf YouTube dokumentiert, die dazugehörigen Tracks | |
wurden zunächst über Filesharing-Seiten vertrieben. Um das Jahr 2009 | |
entdeckte auch Mike Paradinas, Betreiber des britischen Labels Planet Mu, | |
die Szene für sich und lizensierte einige Tracks für seine Compilationreihe | |
"Bangs & Works". | |
## Nacht dem Hype | |
Soeben ist der zweite Teil erschienen. Er dokumentiert, wie sich Juke im | |
Jahr eins nach dem Hype verändert hat. Protagonisten wie DJ Rashad oder DJ | |
Spinn wurden für europäische Festivals und Clubs gebucht und mussten | |
plötzlich anfangen, sich und ihre Musik zu erklären. Das sorgt für mehr | |
Reflexivität. | |
Zwar findet man auf "Bangs & Works Vol. 2" immer noch die alten | |
Battletracks, aber zwischendurch schieben sich langsamere Stücke in den | |
Vordergrund, die Funk- und Housetracks sampeln. Auf seinem Album "Just a | |
taste" wühlt sich DJ Rashad durch ein Universum aus altem Soul und dem | |
gemächlichen G-Funk der Westküste, das er teils zu den Juke-typischen | |
Vocal-Collagen auftürmt oder mit Chiptunes der neueren britischen Schule | |
zusammenbringt. | |
Wenn britische Produzenten versuchen, Juke zu komponieren, bleibt von | |
dieser Vielfalt in der Regel nur noch das bekannte Soundgerüst aus analogen | |
Drums übrig. Aber vielleicht ist diese Reduktion auch unausweichlich. Wie | |
sollte man auch die in jahrelangen Footwork-Battles transformierten Körper | |
von DJs und Tänzern, die das Genre nach vorne treiben, eins zu eins | |
interkontinental übertragen können? Schließlich verläuft die Entwicklung in | |
der Gegenrichtung auch nicht anders. | |
Als Dubstep dieses Jahr die iPods US-amerikanischer Teenager eroberte, | |
wurde auch er auf ein Klischee reduziert: den aggressiven, ultraverzerrten | |
Basslauf im mittleren Frequenzbereich, der Dubstep zum neuen Stadionrock | |
gemacht hat. Problematisch werden diese kulturellen, durch das Internet | |
lediglich beschleunigten Prozesse eigentlich erst, wenn man eine schon | |
immer kontingente Aneignung mit dem Prädikat des Authentischen auszeichnet. | |
Die dabei entstehenden Essentialisierungen von "echter" und "unechter" | |
Subkultur dienen letztendlich nur der Selbstvergewisserung eines Publikums, | |
anstatt der Realität der Kulturproduktion gerecht zu werden. | |
Kein Wunder also, dass sich Produzenten und DJs regelmäßig über solche | |
Diskussionen erheben. Im Videoclip zu seiner Single "Bussin Down" schickt | |
der mit einem Videospiel-Controller bewaffnete Produzent Chrissy Murderbot | |
seinen real existierenden Footwork-Champion in den virtuellen Battle gegen | |
DJ Spinn. Selbstverständlich verliert Murderbot alle Runden – ein weißer | |
Musiknerd kann halt nicht tanzen, selbst dann nicht, wenn er anstelle der | |
Füße nur seine Finger bewegen muss. | |
Auf einem anderen Terrain kann man den Literaturstudenten jedoch nicht | |
bezwingen. Bekannt wurde Chrissy Murderbot durch Mixtapes, auf denen er | |
sein Fanwissen über House und Old-School-HipHop ausbreitete. Und auch sein | |
Debütalbum "Womens Studies" trägt die Spuren des obsessiven Fans, der sein | |
Debütalbum dafür nutzt, endlich mal seine Idole zu treffen: Die erste Reihe | |
britischer Dancehall-MCs liefert sich über den Juke-Rhythmen Murderbots | |
nicht ganz ernst gemeinte Battles über marginalisierte Körperteile. | |
## Plakative Selbstironie | |
"Womens Studies" funktioniert, weil Chrissy Murderbot die Debatte um | |
kulturelle Aneignung, die Authentizität immer nur im afroamerikanischen | |
"Original" finden will, selbstironisch kommentiert. Wobei dieser manchmal | |
doch etwas plakative College-Humor eigentlich gar nicht nötig ist, um auf | |
das offensichtlich Inauthentische hinzuweisen. | |
Der britische Produzent Paul Lynch sampelt mit seinem Projekt Patrice & | |
Friends alte Disco-, House- und UK Garage-Tracks und fügt die Samples in | |
die Rhythmuspatterns von Juke. Für Footwork-Battles sind seine Tracks zu | |
langsam, für ein Post-Dubstep-Set zu wenig auratisch. Patrice & Friends | |
klingt einfach "falsch" - egal ob für britische oder Chicagoer Ohren. Und | |
ist gerade deshalb ein Ausweg aus der Sackgasse der "Realness". | |
Various Artists: "Bangs & Works Vol. 2" (Planet Mu); | |
DJ Rashad: "Just a taste" (Ghettophiles) | |
Chrissy Murderbot: "Womens Studies" (Planet Mu) | |
Patrice & Friends: "Cashmere Sheets" (Sulk Records) | |
30 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Christian Werthschulte | |
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