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# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Die Demokratie belehren
> Demokratie – schon ewig vergangen oder gerade erst im Kommen? Und dann
> auch noch als "Postdemokratie"?
Als präzise und differenziert gilt, wer den Zustand westlicher
Gesellschaften als "postdemokratisch" bezeichnet. Der Begriff suggeriert
eine begründete Beunruhigung.
Einer der bedeutenderen Theoretiker der "Postdemokratie", Colin Crouch,
will ihren Zustand so bestimmen: "In einer Postdemokratie, in der immer
mehr Macht an die Lobbyisten der Wirtschaft übergeht, stehen die Chancen
schlecht für egalitäre politische Projekte zur Umverteilung von Wohlstand
und Macht sowie die Eindämmung des Einflusses mächtiger Interessengruppen."
Freilich ist Crouch, im Unterschied zu vielen, die seine Theorie im Munde
führen, vorsichtig genug einzuräumen, dass der Zustand der Postdemokratie
keinesfalls erreicht ist, sondern nur, dass Tendenzen auf diesen Zustand
hin bestehen. Aber sogar, wenn der noch gar nicht eingetretene Zustand
"Postdemokratie" richtig beschrieben wäre, fragt sich noch immer, wann und
unter welchen Umständen tatsächlich Demokratie herrschte.
1967 publizierten Johannes Agnoli und Peter Brückner ihr Buch
"Transformation der Demokratie", später als "Bibel der APO" bezeichnet. In
der Bundesrepublik herrschte eine große Koalition mit dem ehemaligen
Nationalsozialisten Kiesinger als Kanzler und Willy Brandt als
Außenminister. Zuvor war das Land von schwarz-gelben Koalitionen unter
Konrad Adenauer und Ludwig Erhardt regiert worden. Was also hatte sich wann
transformiert?
Für Agnoli/ Brückner war schon der Parlamentarismus selbst – so Stephan
Grigat – "eine spezielle Form der Repräsentation von Herrschaft, die
mittels des Wahlaktes die Illusion der Selbstbestimmung der Beherrschten
aufrechterhält". In der Sicht von Agnoli/Brückner stellte schon die
parlamentarische Demokratie, die Crouch bewahren will, eine Form der
"Postdemokratie" dar.
## Nur eine Polizeiordnung
Kaum anders sah es der französische Philosoph Jacques Rancière, der den
Begriff "Postdemokratie" lange vor Crouch geprägt hat. Rancière hält in
seiner Schrift über das "Unvernehmen" (1995) sogar eine "funktionierende"
Demokratie im Sinne Crouchs nur für eine Polizeiordnung. Er bestimmt
"Postdemokratie" als "Regierungspraxis und begriffliche Legitimierung einer
Demokratie nach dem Demos, einer Demokratie, die die Erscheinung, die
Verrechnung und den Streit des Volkes liquidiert hat".
Agnoli/Brückner, Rancière, Crouch – im Westen nichts Neues! Die Klage, dass
die repräsentative parlamentarische Demokratie nicht wirklich demokratisch
sei, begleitet diese Herrschaftsform wie ein Schatten – schon Marx und
Engels waren 1848 im "Kommunistischen Manifest" der Überzeugung, dass erst
die proletarische Revolution die wahre Demokratie erkämpfen werde.
Freilich fand diese Klage stets zwei miteinander nicht verträgliche
Ausdrucksformen, eine Verfallsmetapher und eine messianische Metapher:
Während die einen suggerieren, Demokratien habe es irgendwann einmal
tatsächlich gegeben, behaupten die anderen, dass sie unter kapitalistischen
Verhältnissen nicht möglich und unter kommunistischen nicht nötig sei.
Messianisch löst Jacques Derrida das Problem, wenn er 1993 in seinem Buch
"Voyous" (Schurken) von der "démocratie à venir" schreibt; also von der je
im Kommen begriffenen Demokratie, einer ewig bevorstehenden Zukunft, die
aber nicht als "regulative Idee" verstanden werden darf.
Das "Kommende" bezeichnet für Derrida "nicht nur das Versprechen, sondern
auch, dass die Demokratie niemals existieren wird im Sinne gegenwärtiger
Existenz: nicht nur weil sie aufgeschoben wird, sondern auch, weil sie in
ihrer Struktur stets aporetisch bleiben wird".
Apokalyptiker helfen in krisenhaften Zeiten ebenso wenig weiter wie
Messianiker, obwohl beiden gelegentlich interessante Impulse zu verdanken
sind. Was das demokratische Herrschaftssystem und seine Krisen angeht, ist
man daher bei dem 1831 die USA bereisenden französischen Aristokraten
Alexis de Tocqueville nach wie vor besser aufgehoben. Tocqueville gab
seiner Leserschaft in der Einleitung zu seinem Buch "Über die Demokratie in
Amerika" Folgendes mit auf den Weg:
"Die Demokratie belehren, wenn möglich ihren Glauben beleben, ihre Sitten
läutern, ihre Bewegungen ordnen, nach und nach ihre Unerfahrenheit durch
praktisches Wissen, die blinden Regungen durch Kenntnis ihrer wahren
Vorteile ersetzen; ihre Regierungsweise den Umständen der Zeit und des
Ortes anpassen; sie je nach Verhältnissen und Menschen ändern: das ist die
erste Pflicht, die heute den Lenkern der Gesellschaft auferlegt ist."
Konsequent demokratisch gedacht wäre zu ergänzen, dass in einer Demokratie
die "Lenker der Gesellschaft" alle ihre BürgerInnen sind.
2 Jan 2012
## AUTOREN
Micha Brumlik
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