# taz.de -- Unterwegs mit dem Intercity-Express: Sauerstoff für die Heilige Fa… | |
> Die Herren zu Guttenberg und Sarrazin waren nur die Vorhut. Deutschland | |
> ist auch 2012 auf dem Weg zur Standesgesellschaft. Und zwar schnell – im | |
> ICE. | |
Bild: Im Zug sind wir allein mit jenen, die uns das Leben zugelost hat. | |
Das Paar um die vierzig macht eine Menge her für ein Alter, in dem sich | |
ästhetisch so langsam die Spreu vom Weizen trennt: Er – graues Bärtchen, | |
graues Jackett, grauer modischer Kurzhaarschnitt – spricht von | |
Dreharbeiten. Sie trägt eine knallgrüne Strumpfhose zum kurzen Rock und | |
redet von einem wichtigen Meeting, aus dem sie vorzeitig rausmusste, wegen | |
der Zugfahrt und der zwei kleinen Kinder. | |
Mit denen sitzen sie an einem Vierertischchen im Großraumwagen, dazu viel | |
Gepäck, Spielzeug, Aufmerksamkeit, gesundes Essen und gesunde Getränke. Ich | |
sitze am Vierertisch daneben und trinke seit Berlin-Ostbahnhof Bier. Sie | |
sind am Hauptbahnhof zugestiegen, aha, denke ich: Prenzlauer Berg, aber | |
eigentlich verspüre ich wenig Lust, das überstrapazierte Stereotyp noch | |
weiter breitzutreten. | |
Dann heißt es nur wieder: Der ist ja bloß neidisch auf unser Leben, unser | |
Geld, unsere Kinder, unseren Style, unser Vierertischchen, was weiß ich. | |
Ich bin aber nicht neidisch, das habe ich auch gar nicht nötig: Ich hab ein | |
eigenes Leben und ein eigenes Vierertischchen, wenn auch voller Fremder, | |
die meinem Blick ausweichen und stattdessen mein Bier anstarren. | |
(Nur manchmal in dunklen Nächten, wenn ich nicht schlafen kann, denke ich | |
daran, wie es wäre, wenn ich nachmittags zu Hause an meinem | |
After-Eight-dünnen Apple-PiePadPod über einer kackwichtigen Kampagne säße, | |
im Kaminfeuer knisterten traulich überzählige Geldscheine geringen | |
Nennwerts und unsere kleine Mara oder so käme mit roten Bäckchen aus dem | |
Kindergarten nach Hause, stibitzte ihrer Mama (High Heels, trotzdem super | |
in der Küche!) ein Dinkelplätzchen mit Oleanderhonig und trällerte fröhlich | |
ein paar Zeilen Schopenhauer, die sie in Frühphilosophie gelernt hätte, | |
durch den Wintergarten unserer Dachgeschosswohnung, anstatt schon vor | |
Jahren einer von Geld- und Liebesmangel diktierten, überstürzten Abtreibung | |
zum Opfer gefallen zu sein.) | |
## Die "schlechte Luft" | |
Auch kenne ich schlicht zu viele Leute, die in beliebten Innenstadtbezirken | |
wohnen, arbeiten, Eltern sind, nicht in Pappschachteln leben und trotzdem | |
noch andere Themen als ihre auf unaufgeregte Weise gut geratenen Kinder | |
haben; Leute, die keine Menschen verachten, die nicht wie sie sind, und | |
nicht versuchen, jedes Zeichen städtischen Lebens um sich herum | |
auszumerzen, kurz: Die noch nicht komplett wahnsinnig geworden sind. | |
Ganz im Gegensatz zur Husemutti hier im Zug, das muss man leider so klar | |
sagen – das Klischee frisst am Ende doch noch seine Kinder. Der Zug | |
Richtung Frankfurt ist nämlich voll. Der eine oder andere sitzt bereits auf | |
dem Boden. Glücklich sollte also sein, wer sogar einen Vierertisch besitzt. | |
Aber nein: "Hier ist bestimmt bald keine Luft mehr im Wagen", nölt sie, | |
derweil die Klimaanlage vorzüglich arbeitet. "Kein Sauerstoff. Das geht | |
nicht. Zu viele Leute." | |
Dann wäre es sicher das Beste, wir ziehen erst mal Hälmchen, wer am | |
nächsten Nothalt namens Wolfsburg den Zug verlässt, damit die Heilige | |
Familie besser atmen kann. Wie viele nach den Maßstäben der Prenzlauer | |
Bitch wohl noch bleiben dürfen? Und wer? Ich bestimmt nicht - ich wundere | |
mich ja schon, dass sie die Metapher von der "schlechten Luft" benutzt und | |
mich auf mein Bier nicht direkt anspricht. In enger werdenden Schleifen | |
wiederholt sie ihr Lamento. Der ganze Zug soll wissen, wie undankbar | |
Deutschland seine Eliten behandelt. | |
Sie hat unter Schmerzen das Gymnasium besucht, studiert, promoviert, Kinder | |
geboren und das Loft mit Designervierertischchen eingerichtet. Und dann | |
stellen die einem noch nicht mal einen gesocksfreien Sonderzug mit | |
Kinderparadies – als wäre Leistung ein Makel, für den man sich schämen | |
muss. Das ist mal wieder typisch Deutschland, in "den Staaten" läuft das | |
völlig anders. Seufzend beugt sie sich über die Zeichnung ihres Jungen: Ein | |
Flugzeug mit vielen Fenstern, aus denen lauter fröhliche Gesichter blicken. | |
3 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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