# taz.de -- Bustourismus in Berlin: Grüße von Ralf an den Portier vom Adlon | |
> Trotz Segway und Bierbike: Viele Touristen lassen sich die Stadt immer | |
> noch vom Reisebus aus erklären. Ein Tag zwischen DDR-Witzen, fettigem | |
> Essen und Holocaust-Mahnmal - und auf der Suche nach einem Klo. | |
Bild: Da staunt der Reisebus-Touri: Berlin, ganz hart. | |
Auf dem Oberdeck ist man auch schon morgens um neun bestens gelaunt. | |
"Hallo, Oberdeck!", begrüßt Ralf, der Reiseführer, vom Unterdeck des Busses | |
über das Mikrofon die dort versammelten Rentner. Die grüßen mit heftigem | |
Getrampel zurück. Es folgt ein "Hallo, Unterdeck!" und auch dort Getrampel. | |
"Für wen war das denn? Für die Berliner Mäuse?", fragt Ralf. "Schreib alle | |
meine Witze mit, die sind gut", hat er beim Besteigen des Reisebusses | |
gesagt - so soll es sein. | |
Seit dem vorangegangenen Tag ist die 60-köpfige Gruppe aus dem Ruhrgebiet | |
in Berlin. Frühmorgens sind sie mit dem Doppeldecker in Essen losgefahren, | |
haben mittags im Park Inn am Alexanderplatz eingecheckt und später einen | |
Bummel durch die Hackeschen Höfe absolviert. Heute folgt eine eintägige | |
Stadtrundfahrt mit Stopps zum Fotografieren. Nach fünf Tagen wird es für | |
alle wieder nach Hause gehen, ganz ohne auf einem Bierfahrrad den Verkehr | |
aufgehalten, den Anwohnern der Admiralbrücke den Schlaf geraubt oder in | |
einer Ferienwohnung Kiezbewohner verdrängt zu haben. Sie machen vielmehr, | |
was man von Touristen erwartet: im Hotel wohnen, in vermeintlichen | |
Ur-Berliner Kneipen fettig essen - und Stadtrundfahrten unternehmen. | |
Ralf Lillig ist ein agiler Endfünfziger mit Jeans, Glatze, randloser Brille | |
und Schnauzer. Er hat schon vor der Wende Reisegruppen nach Berlin | |
begleitet und besteht darauf, dass man ihn Ralf nennt: "Wir Reisende, wir | |
duzen uns." Vorn rechts an der Windschutzscheibe des großen gelben | |
Reisebusses sitzt er und erklärt den gut gelaunten Rentnern, was da alles | |
an ihnen vorbeizieht. Vom Alexanderplatz geht es über die Karl-Marx-Allee | |
und die Warschauer Straße zur Oberbaumbrücke und der East-Side-Gallery. In | |
den zwölf Minuten, die diese Fahrt dauert, schafft Ralf es von der | |
Stadtgründung bis zum Mauerfall, er nennt Klaus Wowereit "eine | |
Lichtgestalt" und die Mehrzweckhalle am Ostbahnhof "den Ort für | |
Musikhighlights in Berlin". Zeit für den Witz über das DDR-Warenhaus, in | |
dem ein Kunde fragt, ob es denn keine Möbel gebe, ist auch noch: "Keine | |
Möbel haben wir in der vierten Etage, hier in der zweiten haben wir keine | |
Teppiche." Das Oberdeck lacht. | |
## Berlin, immer wieder Berlin | |
An der Mühlenstraße fährt Bernd Raddatz, der Busfahrer, zum ersten Mal | |
rechts ran. Jetzt haben alle 15 Minuten Zeit, Fotos von den verbliebenen | |
Mauerstücken an der East-Side-Gallery zu machen - oder was man im | |
November-Frühnebel davon erkennen kann. Während viele den geheizten Bus | |
lieber nicht verlassen, riskiert Bärbel Reiser einen Blick. Mit ihrem | |
dicken Pelzmantel ist die akkurat zurechtgemachte Düsseldorferin bestens | |
angezogen für den Berliner Herbst. "1965 war ich das erste Mal in Berlin", | |
erzählt sie. Unzählige Male sei sie seitdem hier gewesen, aber ihr Mann | |
komme ja auch aus Potsdam. "Seitdem wir Rentner sind, reisen wir sehr | |
viel." Oft seien sie dann mit dem Reisebus unterwegs, einfach, weil es | |
bequem und meist perfekt organisiert sei. "Natürlich sieht man, wenn man | |
öfter eine Busreise nach Berlin macht, einiges doppelt, aber langweilig | |
wird es trotzdem nie", findet Reiser. | |
Eine Viertelstunde später ist der Bus wieder voll besetzt - pünktlich auf | |
die Minute. Wie bei einer Klassenreise guckt jeder, ob sein Nebenmann da | |
ist, dann geht es weiter in Richtung historischer Mitte. Ralf erzählt vom | |
Kreuz, das die Sonne auf die Kuppel des Fernsehturms malt ("In der DDR | |
nannte man es die Rache des Papstes"), vom Alexa ("Im Volksmund: Pharaos | |
Grab") und dem beflaggten Roten Rathaus ("Wenn der Fetzen raushängt, sind | |
die Nulpen drin, sagt der Berliner"). | |
Zwischendurch stellt er immer wieder mal das Mikro ab, um sich mit Bernd | |
über die beste Route durch den Baustellendschungel rund um den Schlossplatz | |
zu beraten. "Das ist nichts Schlimmes, nur ein Reisebus", kommentiert der | |
Busfahrer kurz darauf den verschreckten Blick einiger Passanten, als er an | |
der Museumsinsel mit dem riesigen Gefährt in die schmale Straße Am | |
Kupfergraben einbiegt. Es soll ja hinterher keiner der Urlauber sagen, er | |
habe Berlin besucht, aber das Pergamonmuseum nicht gesehen. Und sei es auch | |
nur durch ein gut geputztes Busfenster. | |
Unter den Linden ist wieder ein kurzer Stopp angesagt. Bernd besetzt die | |
Hälfte einer BVG-Haltestelle und meint: "In keiner anderen großen Stadt | |
wird so viel geduldet wie in Berlin. Wir arrangieren uns da gut mit den | |
Kollegen der Linienbusse." | |
Diesmal steigen alle aus, um das Brandenburger Tor zu fotografieren - oder | |
den Portier des Adlon von Ralf zu grüßen, damit er sie dort aufs Klo lässt. | |
So hat es ihnen der Reiseführer zumindest aufgetragen. Nur Peter Kohl sucht | |
das Restaurant "Goldelse". "Ich sehe doch abends immer ,Anna und die | |
Liebe', und da spielen viele Szenen in der Goldelse", erzählt der | |
83-Jährige. "Das muss irgendwo hier sein." | |
Fündig wird er nicht. Das Haus, das in der Sat.1-Serie unter dem Namen | |
"Goldelse" firmiert, liegt irgendwo am Kudamm, und dessen Besuch steht erst | |
nachmittags auf dem Programm. Stattdessen muss Kohl mit seiner historisch | |
anmutenden Kamera, die in einer hellbraunen Ledertasche im 70er-Look vor | |
seinem Bauch baumelt, die Studenten fotografieren, die zu diesem Zweck in | |
Uniformen der Besatzungsmächte vor dem Brandenburger Tor stehen. Die hat er | |
immerhin auch schon mal im Fernsehen gesehen. | |
Die weiße Strickmütze tief ins Gesicht gezogen, steht Annemarie Bentrop auf | |
dem Pariser Platz. Die 76-Jährige ist gemeinsam mit ihrer Schwester | |
unterwegs. Sie verreisten jetzt öfter zusammen, seitdem ihr Mann gestorben | |
sei, erzählt sie. "Man kann ja nicht immer zu Hause sitzen, nur weil man | |
alleine ist." Aus alter Gewohnheit nennt sie die Schwester im Gespräch | |
manchmal Manfred. | |
Alleine in Urlaub zu fahren, das käme für Bentrop nicht in Frage. Zumal sie | |
gerade erst erlebt, dass auch eine Busreise nicht garantiert, Anschluss zu | |
finden, wie eng die Sitzreihen auch seien mögen. "Die meisten sind zu zweit | |
und bleiben unter sich", meint sie. Man komme zwar beim Essen mal ins | |
Gespräch, aber ein Gemeinschaftsgefühl entstehe so nicht. Dafür sei sie | |
aber auch nicht hergekommen. | |
## Ernst Reuter starb an Bronchitis | |
Nach 30-minütiger Pause geht es nun auf die letzte Etappe des Vormittags: | |
Die Zickzackroute führt am Holocaust-Mahnmal vorbei, durch das | |
Regierungsviertel und über den Großen Stern im Tiergarten zum Schloss | |
Charlottenburg. Ralf erzählt vom alten Westen, vom Kaffee Keese und den | |
Liebhabern der Königin Sophie Charlotte. "Ich lese Reiseführer wie andere | |
Leute Romane", hat er kurz zuvor erklärt. Über die Jahre hat er sich | |
dadurch ein Detailwissen angeeignet, das nun auf die Businsassen | |
niederprasselt. Er kennt die Geburtsdaten der preußischen Könige ebenso wie | |
die Todesursache von Ernst Reuter (der erste Regierende Bürgermeister | |
West-Berlins erlag einer verschleppten Bronchitis). "Das Wissen ist mein | |
Job. Nach Berlin fahren ist für mich wie ins Büro kommen." | |
Nach einem letzten kurzen Stopp am Schloss, den ein Großteil der | |
Reisegruppe in die Suche nach öffentlichen Toiletten investiert, geht es an | |
den Kudamm. Als die Charlottenburger Schloßstraße passiert wird, raunt ein | |
"Die erste schöne Straße in dieser Stadt" durch den Bus. Kein Wunder: Das | |
Berlin der Bustouristen ist von großen, hässlichen Ausfallstraßen geprägt, | |
nicht von hochpolierten Gründerzeitvierteln. | |
Für alle, die es organisiert mögen, hat Ralf im Europacenter einen Tisch in | |
einem Restaurant mit gutbürgerlicher Küche reserviert. Alle anderen dürfen | |
sich nun zwei Stunden lang auf eigene Faust vergnügen. Am Nachmittag geht | |
es dann noch auf einen Abstecher nach Kreuzberg, an den Potsdamer Platz und | |
zurück ins Hotel. Für den nächsten Tag ist eine ähnliche Tour nach Potsdam | |
geplant. | |
Um die Geduld seiner BVG-Kollegen nicht über die Maßen zu strapazieren, | |
fährt Bernd den Reisebus diesmal auf einen ausgewiesenen Parkplatz vor dem | |
Bahnhof Zoo. Dort trifft er auf seinen Chef, der zeitgleich mit einer | |
weiteren Reisegruppe unterwegs war. Walter Job trägt Funktionsjacke zum | |
schwarzen Anzug, eine dicke goldene Uhr am Handgelenk und eine verspiegelte | |
Pilotenbrille. 1971 hat der Essener Unternehmer gemeinsam mit seiner Frau | |
den ersten Bus angeschafft, mittlerweile gehören ihm 22 Doppeldecker, mit | |
denen er bis zu 60.000 Menschen im Jahr zu Zielen in ganz Europa | |
kutschiert. | |
"Berlin ist ein Reiseziel für Senioren", meint Job. Doch generell seien | |
Busreisen keineswegs der Generation 60 plus vorbehalten: Tagestrips nach | |
London oder Paris würden fast ausschließlich von jungen Leuten gebucht. | |
"Andere haben jahrelang ausschließlich Rentner nach Mayrhofen ins Zillertal | |
gekarrt und sich dann irgendwann gewundert, als die Kunden ausblieben." So | |
soll es ihm nicht ergehen. "Der Bus erlebt eine Renaissance", glaubt er. | |
6 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Juliane Wiedemeier | |
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