# taz.de -- Schauspieler über die neue Verfassung: "Ungarn leben in der Vergan… | |
> Sein Land hat Probleme mit der Demokratie, aber ist noch lange keine | |
> Diktatur, sagt einer der Köpfe der Protestbewegung gegen die Regierung | |
> Viktor Orbán, János Kulka. | |
Bild: Peinlich berührt: Immer mehr Ungarn protestieren öffentlich gegen die P… | |
Was stört Sie an der neuen Verfassung am meisten? | |
János Kulka: Dass ich so gut wie nichts darüber wusste. Der Inhalt der | |
neuen Verfassung hätte mit den Bürgern Ungarns diskutiert werden sollen. | |
Gehört das nicht zu Orbáns Strategie, Informationen zurückzuhalten? | |
Das weiß ich nicht. Allerdings ist es kein gutes Signal, das Wort | |
"Republik" aus dem Namen des Landes zu streichen. Die Republik ist doch | |
eine Errungenschaft! | |
Wie würden Sie sich selbst beschreiben? | |
Ich bin ein glückliches Mitglied des Nationaltheaters und ungarischer | |
Staatsbürger, der dieses Land liebt und den gesunden Menschenverstand | |
trotzdem nicht verloren hat. Du kannst dein Land nämlich auch dann mögen, | |
wenn du mit der Politik der Regierung und ihren Methoden nicht | |
einverstanden bist. Außerdem bin ich Optimist, denn ich hoffe sehr, dass | |
bei den nächsten Wahlen eine neue Regierung ans Ruder kommt. Und ich | |
weigere mich, mir den Tod der ungarischen Nation auch nur vorzustellen. | |
In vielen ausländischen Medien ist bereits von einer kommenden ungarischen | |
Diktatur die Rede. | |
Die Situation sollte so gesehen werden, wie sie ist: Ungarn ist eine | |
Demokratie, in der alle vier Jahre demokratische Wahlen stattfinden. | |
Trotzdem muss man feststellen, dass wir hinterherhängen, was das Lernen von | |
Demokratie angeht. Politiker ist ein Beruf, der von Profis ausgeübt werden | |
sollte. Bei uns machen es meistens Laien. Zudem spielt hier die Politik | |
eine zu große Rolle im Alltag der Menschen und macht sie schlicht | |
hysterisch. | |
Hysterie? In der internationalen Presse löste die Auswechslung des | |
Intendanten am Neuen Theater auch einen Aufruhr aus. | |
Natürlich macht sie auch mir Sorgen. Die Neubesetzung der Intendanz war | |
eine politische Entscheidung, die mit dem Theater und seinen Aufführungen | |
nichts zu tun hat. Der neu ernannte Intendant, György Dörner, wurde von der | |
rechtsradikalen Gruppe der "Goi Motorradfahrer" begrüßt, und sie kündigten | |
an, sie werden mit Motorrädern die Andrássy-Allee entlang auffahren und der | |
Premiere im Lederoutfit beiwohnen. Ich begreife so etwas nicht. Nicht im | |
21. Jahrhundert, nicht mitten in Europa. Auch wie der Intendant des | |
Nationaltheaters, Róbert Alföldi, im Parlament offen als Schwuchtel | |
bezeichnet werden kann, ist mir ein Rätsel. Zurzeit probe ich "Nathan den | |
Weisen" von Lessing. Das Stück ist leider sehr aktuell heute in Ungarn: | |
Juden, Christen, Muselmanen - wir sind alle vor allem Menschen! | |
Muss man heute in Ungarn Angst haben? | |
Viele haben Angst, doch ich finde das übertrieben. Man sollte weiter in | |
Ruhe seine Meinung sagen. Ich denke nicht, dass die Regierung dem Land | |
Böses antun will. Aber sie haben eine sehr eigenartige Denkweise, die mir | |
nicht in den Kopf will. Viktor Orbán hat sicherlich eine Vision von Ungarn, | |
die ich aber nicht begreife, denn wie kann man sich mitten in Europa so | |
isolieren wollen? Ich war so froh, als wir EU-Mitglied geworden sind! Heute | |
aber schürt die Regierung die Angst, das Ausland wolle Ungarn aufkaufen. | |
Womit ich einverstanden bin, ist, dass der Kapitalismus an seine Grenzen | |
gekommen ist, und auch, dass der Mensch grundsätzlich gierig ist. Der | |
Mensch ist des Menschen Wolf. Trotzdem herrscht in unserem Teil der Welt | |
Demokratie. Unsere Regierung zieht aus diesem Paradox die falschen | |
Schlüsse: Sie will Ungarn vor der bösen Welt schützen und versucht den | |
Alleingang. Es tut mir weh zu sehen, dass wir rückwärts laufen. | |
Daran ist aber nicht nur die Regierung schuld. Viele Ungarn teilen diese | |
antieuropäische Haltung. | |
Richtig. Das hängt damit zusammen, dass wir unsere chaotische Vergangenheit | |
noch immer nicht aufgearbeitet haben. Deshalb können wir uns auch nicht von | |
ihr lösen. Ungarns Gesellschaft ist frustriert. Denn viele hatten in ihrer | |
Familie entweder einen kommunistischen Parteifunktionär oder ein | |
Familienmitglied, das in Auschwitz ermordet wurde. Mindestens seit den 40er | |
Jahren hat jede Familie eine sehr schwere Zeit durchgemacht. Wir können | |
unsere Vergangenheit nicht so bewältigen wie zum Beispiel die Deutschen. | |
Ich weiß nicht, wann dies ein Ende nimmt. Mein Gewissen ist sauber, ich | |
zahle auch ordentlich Steuern. Aber viele eben nicht. Viele haben etwas zu | |
verstecken oder irgendetwas in ihrer Vergangenheit, worüber besser nicht | |
geredet wird. | |
Deshalb können Politiker in Ungarn kritische Stimmen so leicht zum | |
Schweigen bringen? | |
Vielleicht. Oder vielleicht sind wir zu bequem und schweigen lieber. | |
Fühlt sich die Widerstandsbewegung eigentlich international unterstützt im | |
Kampf gegen Orbán? | |
Von einem Kampf kann ja keine Rede sein. Aber internationale Solidarität | |
spüren wir schon. Europa schaut zwar mit Verwirrung zu, doch Ungarn ist ein | |
liebenswertes Land. Hierzulande sollte man sehen, dass das Ausland sich vor | |
allem um uns Sorgen macht. Stattdessen denken die meisten Ungarn, die Welt | |
würde sich gerade gegen sie verschwören. Die Wahrheit ist: Die Welt ist | |
nicht gegen Ungarn, sondern will nur eine ausgeglichene, bürgerliche | |
Demokratie in diesem Land sehen. | |
Wie geht es weiter? | |
Wir brauchen eine breite, demokratische Vereinigung, eine Solidarität, neue | |
Parteien, die von jungen Menschen geleitet werden, die keine plagende | |
Vergangenheit haben, wir brauchen gute Politiker. Ungarn muss rationaler | |
werden. Imre Kertész schreibt in seinem Roman "Kaddisch für ein nicht | |
geborenes Kind", dass Menschen dazu neigen, sich Dämonen zu erfinden, auf | |
die sie ihre schlechten Wünsche projizieren, um sie in Ruhe in deren | |
Schatten ausleben zu können. Böse sind also immer die Anderen. Dabei können | |
nur wir selbst unser Schicksal ändern, jeder für sich individuell. Wir | |
müssen begreifen, dass es harte Arbeit ist, die Demokratie am Leben zu | |
erhalten. | |
8 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Anna Frenyo | |
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