# taz.de -- Migration und Recht: Privatjustiz im Hinterzimmer | |
> Der Libanese Hassan Allouche nennt sich "Friedensrichter" und schlichtet | |
> Streit, bevor dieser vor Gericht landet. Ist er eine Gefahr für das | |
> deutsche Recht? | |
Bild: Hassan Allouche: "Ich bin ein Diener Allahs und Deutschlands." | |
Der libanesische Gebrauchtwagenhändler Melih H. aus Berlin wollte seine | |
17.000 Euro zurück, er hatte sie einem Landsmann geliehen. Weil der das | |
Geld nicht zurückzahlen konnte, gingen sie zu Hassan Allouche, dem | |
Streitschlichter. Das Treffen endete mit einer Messerstecherei. | |
Aber als sie vor Gericht standen, wussten die beiden von dem Vorfall | |
plötzlich nichts mehr, der mutmaßliche Täter Melih H. und sein Opfer waren | |
sich einig, dass nichts geschehen sei. Der als Zeuge vorgeladene Allouche | |
erklärte der verblüfften Richterin: "Ich soll alle Probleme in der | |
arabischen Gemeinde schlichten, alle Nationalitäten kommen jetzt zu mir aus | |
ganz Deutschland." Nicht unwahrscheinlich also, dass Allouche die zwei | |
Parteien bei einer außergerichtlichen Einigung unterstützt hat. | |
Wer Hassan Allouche trifft, der tritt ein in eine Parallelgesellschaft. Der | |
füllige Libanese sitzt mit einer schusssicheren Weste im Hinterzimmer eines | |
türkischen Restaurants in Berlin-Neukölln. Es ist dunkel, Spielautomaten | |
blinken, neben dem 57-Jährigen wacht seine Tochter Sissy und nimmt das | |
Interview auf. Nach wenigen Minuten klingelt sein Handy, er redet aufgeregt | |
Arabisch. | |
Eine junge Türkin ist mit einem Araber durchgebrannt, die Familienehre in | |
Gefahr, Allouche soll eingreifen, er muss jetzt los und "Schlimmes | |
verhindern", wie er sagt. Was das bedeutet? "Schon mal was von Ehrenmord | |
gehört?", fragt er zurück, zündet sich die nächste Zigarette an und zieht | |
hastig daran. | |
## Recht nach persönlichem Empfinden | |
Hassan Allouche nennt sich seit 1990 "Arabischer Friedensrichter", eine | |
Bezeichnung, die auf seiner Visitenkarten steht und mit der er sich am | |
Telefon meldet. Doch "Friedensrichter" ist ein irreführender Begriff, denn | |
Allouche ist kein Richter, er hat kein Amt. Er regelt die Probleme jenseits | |
der deutschen Justiz, er braucht keinen Gerichtssaal, keine Anwälte oder | |
Protokollanten, eine juristische Ausbildung hat er nicht. | |
Was Recht ist, entscheidet er nach seinem persönlichem Empfinden. "Ich kann | |
Recht und Unrecht unterscheiden", sagt er. Dem Mann ist nichts zu heikel, | |
nur bei Rauschgift und Terror halte er sich raus. Er sieht sich als "Diener | |
für Allah und für Deutschland". | |
Die selbst ernannten Friedensrichter schalten sich zwischen den Betroffenen | |
und den Behörden ein. Sie reden mit den Tätern und Opfern, bewegen sie | |
manchmal sogar zu Falschaussagen. Zwar wird eine Eskalation meist | |
vermieden, eine Bestrafung der Täter allerdings auch. | |
Ermittlungen enden immer wieder an einer Mauer des Schweigens. "Hat sich in | |
ein Ermittlungsverfahren erst einmal der Friedensrichter eingeschaltet, | |
sind weitere Aussagen der streitenden Parteien bei der Polizei nicht mehr | |
zu erwarten", hieß es schon 2004 in einem Bericht der Kommission | |
Organisierte Kriminalität für die Innenministerkonferenz. | |
## Unbequeme Ansichten | |
Für die Justiz ist es frustrierend, wenn Einigungen außerhalb des Rechts | |
getroffen werden. "Kriminalisten und Robenträger ärgern sich im Stillen, | |
wenn sorgfältig geknüpfte Beweisketten plötzlich reißen", sagt der | |
Journalist Joachim Wagner. Er hat ein Buch über das Phänomen der | |
Friedensrichter geschrieben; darüber, wie "islamische Paralleljustiz | |
unseren Rechtsstaat gefährdet". Manche dieser Friedensstifter arbeiteten | |
legal, doch die meisten seien im kriminellen Milieu tätig, glaubt Wagner. | |
Seine Ansichten sind politisch unbequem: Er warnt, dass bestimmte Schichten | |
nicht mehr zu kontrollieren seien, er kritisiert das Scheitern von | |
Integrationsbemühungen, und er attackiert die deutsche Justiz: Die habe, in | |
falsch verstandener Toleranz, diese Entwicklung befördert. | |
Was Wagner in Deutschland kritisiert, ist in anderen Ländern Normalität. In | |
muslimischen Gesellschaften ist der Einsatz von Friedensrichtern üblich, | |
manche von ihnen werden sogar berühmt, wie der mittlerweile verstorbene | |
Sait Sanli. "Der kurdische Mann des Friedens", schrieb der britische The | |
Independent über den mittlerweile verstorbenen Sait Sanli aus dem | |
türkischen Diyarbakir. | |
Die französische Nachrichtenagentur AFP hatte den Kurden 2005 für den | |
Friedensnobelpreis vorgeschlagen, weil er mehrere hundert Konflikte | |
zwischen Familien und Stämmen friedlich gelöst hatte. Nur Männer dürfen als | |
Friedensrichter handeln, meistens genießen sie ein hohes Ansehen innerhalb | |
ihres Clans. Sie werden gerufen, wenn es zu Konflikten kommt, wenn sich | |
Familien streiten, Mädchen von zu Hause abhauen oder sich jemand bei einem | |
Autokauf betrogen fühlt. Einige von ihnen haben diese Tradition | |
mitgebracht, als sie nach Deutschland kamen. | |
## Islamische Paralleljustiz | |
In Einwanderervierteln sei eine islamische Parallelordnung entstanden, die | |
eine höhere Akzeptanz genieße als deutsche Gesetze, sagt Wagner. "Die | |
islamische Paralleljustiz entwickelt sich zu einer Bedrohung für den | |
Rechtsstaat." Doch Statistiken kann er keine nennen – es gibt kaum Fakten | |
zu diesem Thema. | |
Wagners Thesen beruhen größtenteils auf seinen Aktenstudien. "Von einer | |
islamischen Paralleljustiz in Deutschland durch Friedensrichter kann keine | |
Rede sein", entgegnet Peter Scholz, Vizepräsident des Berliner Amtsgerichts | |
Tiergarten. Die Streitschlichtung durch die Friedensrichter sei kein | |
"aktuelles Problem der Justiz", die Diskussion lediglich durch "einzelne | |
spektakuläre Fälle am Leben erhalten", so Scholz. | |
Für Wagner ist Allouche "ein Mann wie aus 1001". Es scheint so, als wolle | |
er ihn nicht ernst nehmen. Für Allouche ist Wagner ein Mann, über den er | |
sich vor allem ärgert. Wagner habe sich nie mit ihm getroffen, sagt | |
Allouche. Alles, was in Wagners Buch über ihn stehe, sei erlogen. Wagner | |
hingegen besteht darauf, den Friedensrichter zweimal getroffen zu haben. | |
"Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn kenne oder nicht", sagt Allouche, als | |
er mit Wagners Antwort konfrontiert wird. | |
## Das "Amt" des Friedensrichters geerbt | |
Allouche arbeitet als Wachmann auf einem Autohof, ansonsten besteht sein | |
Alltag im warten auf Hilferufe. Bis zu 200 Fälle habe er im Jahr, "Ich habe | |
schon viele Massaker verhindert", sagt der Libanese. All dies mache er | |
ehrenamtlich, "doch wenn mir jemand etwas schenken will, dann hindere ich | |
ihn nicht daran". Warum ist Allouche Friedensrichter, wenn er dabei doch | |
sein Leben riskiert? "Ich gebe gerne mein Leben hin als Märtyrer für | |
Deutschland", sagt er. "Damit wir alle hier in Frieden und Sicherheit leben | |
können." Außerdem habe er sein "Amt" von seinem Großvater und Vater geerbt, | |
diese seien schon Streitschlichter gewesen. | |
Der Palästinenser ist vor 37 Jahren vor dem Bürgerkrieg im Libanon | |
geflohen. Er hat elf Geschwister, acht von ihnen leben in Berlin, ein | |
Bruder wurde 2004 auf offener Straße durch einen Nackenschuss getötet. Er | |
wollte zwischen zwei Clans vermitteln. Allouche meint, die Täter zu kennen. | |
Aufgeklärt wurde der Fall bisher nicht. Allouche trägt seitdem immer eine | |
schusssichere Weste, die er nur zum Schlafen und Duschen ablegt,und hält | |
seinen Wohnsitz geheim. | |
Er betont, dass er mit den Behörden zusammenarbeite, die aber viel zu | |
nachsichtig seien. Kriminelle Migranten würden die Polizei "verarschen". | |
Deswegen müsse man mit der Eisenfaust durchgreifen und diese abschieben. | |
Warum wird in einigen Teilen der hiesigen Gesellschaft dem deutschen Staat | |
und dem Rechtssystem nicht vertraut? "Viele Menschen, die hier | |
Friedensrichter einschalten, kommen aus Staaten und Diktaturen, in denen | |
der Justiz und der Polizei nicht zu trauen ist", sagt der Freiburger | |
Ethnopsychologe Ilhan Kizilhan. "Diese Ängste bleiben oft noch erhalten." | |
Warum nur Männer diesen Job für sich beanspruchen? Weil die | |
Streitschlichter vornehmlich aus patriarchalisch strukturierten | |
Gesellschaften stammen, so Kizilhan. Deswegen sei auch ein ausgewogenes | |
Urteil nicht immer zu erwarten. "Durch die Herkunft aus patriarchalischen | |
Strukturen ist es möglich, dass die Schlichter etwa bei Eheproblemen | |
zugunsten des Mannes entscheiden." | |
## Vorislamische Traditionen | |
"Streitschlichter praktizieren heute, was ihre Landsleute in der Heimat | |
seit Jahrhunderten getan haben", sagt Wagner. "Sie kombinieren Vorschriften | |
der Scharia mit vorislamischen Rechtstraditionen." Allouche will vom Islam | |
und von Kultur nichts hören. Zu ihm könne jeder kommen, egal, welchen | |
Glaubens. Doch nicht das Schlichten ist das Problem. Das Problem ist | |
vielmehr, dass dabei Gesetze missachtet werden. | |
Etwa wie bei jenem Fußballspiel in Berlin, das in einer Schlägerei endete. | |
Dabei schlug Ali B. Ali M. mit einem metallenen Gegenstand auf den Kopf. | |
Das Opfer stellte Strafanzeige, die er nach einem Tag wieder zurückziehen | |
wollte. Das ist aber im deutschen Recht nicht möglich. Es kam zu einer | |
Gerichtsverhandlung. Der Angeklagte behauptete plötzlich, er sei zum | |
Tatzeitpunkt gar nicht vor Ort gewesen. Kläger Ali B. konnte nicht mehr | |
erklären, wie er zu der Platzwunde gekommen ist. Die Verhandlung endete mit | |
einem Freispruch, ein Friedensrichter hatte sich zuvor eingeschaltet. | |
Joachim Wagner: "Richter ohne Gesetz. Islamische Paralleljustiz gefährdet | |
unseren Rechtsstaat". Econ-Verlag, Berlin 2011, 240 Seiten, 18 Euro | |
16 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Cigdem Akyol | |
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