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# taz.de -- 17. Internationales Filmsymposium: Geh nie zweimal in denselben Film
> Zwingt die Digitalisierung das Kino in die Knie? Oder kann sie es in die
> Zukunft schieben? Kinobetreiber, Museumsleiter und Theoretiker
> diskutierten in Bremen.
Bild: Mensch-Kamera-Symbiose: Fotograf Wafaa Bilal.
"Was ist Kino?" Als der französische Filmtheoretiker André Bazin vor einem
halben Jahrhundert diese Frage formulierte, war ihm die Suche nach einer
Antwort wichtiger als die Klärung des Problems selbst.
Für den Begründer der Cahiers du cinéma konnte das Kino mit einer geringen
Anzahl von Bedingungen - fotografische Aufzeichnung, Wiedergabe durch
Projektion in einem abgedunkelten Saal - immer neue und überraschende
Formen in die Welt setzen, die sich nie auf einen Nenner bringen lassen
würden.
Heute sind bekanntlich die Grundlagen der Kinematografie einem radikalen
Wandel unterworfen. Anlass genug, die Frage im Rahmen des 17.
Internationalen Bremer Symposiums zum Film erneut zu stellen. Um es gleich
vorwegzunehmen: Was das Kino aktuell sein könnte oder zukünftig sein wird,
wird erahnbar nur in einem Mit-, Neben- und Gegeneinander.
Für ein Nebeneinander plädierte etwa Dominique Païni. Der ehemalige Leiter
der Cinémathèque française macht in großflächigen Ausstellungen
Filmgeschichte erfahrbar im Modus des Vergleichs: Leinwände werden im Raum
verteilt, Filmszenen in Endlosschleife wiederholt. So lassen sich nicht nur
Filme mit Filmen, sondern auch mit Zeichnungen, Fotografien oder realen
Ansichten der Stadt Paris konfrontieren.
Dagegen insistierte Alexander Horwath, dass Film im wesentlichen eine Kunst
des Nacheinander ist: Wir können immer nur einen Film sehen. Und dann den
nächsten. So kann in einem Museumsraum bestenfalls die Rezeptionszeit
komprimiert werden, die Kinoerfahrung selbst bleibt außen vor. Dass Horwath
Leiter des Filmmuseums Wien ist, ist dabei kein Widerspruch: Die
Institution hat es seit ihrer Gründung zum Prinzip erhoben, dass die
Geschichte des Kinos niemals in ausgestellten Objekten, sondern nur in den
werkgetreuen Aufführungen der Filme selbst zu begreifen ist.
## Glaubensfrage Sitzplatz
Haben wir aber Filme nur in einem zeitlichen Nacheinander, so haben wir sie
überhaupt nicht. Denn dann gilt, was Malte Hagener mit einer
Heraklit-Paraphrase auf den Punkt brachte: Man geht nie zweimal in
denselben Film. Die unvermeidliche Nachträglichkeit des Filmerlebnisses
führte, so Hagener, ab Ende der fünfziger Jahre zu einer besonderen Form
des Verhältnisses zum Kino, zur Cinephilie. Auf die Einmaligkeit der
Filmvorführung antworteten die Kinobegeisterten mit radikal
idiosynkratischen Verhaltensformen, indem sie unter anderem die Wahl des
richtigen Sitzplatzes im Kino zur Glaubensfrage erhoben.
Dass sich heute Filme- und Ausstellungsmacher um die angemessene
Sitzposition des Publikums streiten können, wurde im Gespräch zwischen dem
Regisseur John Smith und dem Kurator des Kunstmuseums Weserburg, Ingo
Clauss, anekdotisch berichtet.
So führt das Nebeneinander von mehreren Leinwänden zum Gegeneinander im
Kampf um jeden Zentimeter. Neben dem stark gewandelten Verhältnis zwischen
Kunst und Kino blieben andere Aspekte der Neupositionierung des Filmischen
leider unterbelichtet. Die neuen Medien schwebten über allem und wurden
selten konkret benannt.
Der Vortrag des italienischen Filmwissenschaftlers Francesco Casetti lief
auf die knappe Pointe hinaus, dass Kino im Zeitalter digitaler mobiler
Geräte überall dort ist, wo wir unsere Begehren für das Kino investieren.
Und nur eine Veranstaltung befasste sich mit der ökonomischen Situation des
Kinos. Cornelia Klauß, Sprecherin des Bundesverbands kommunale Filmarbeit,
fand für die gegenwärtige Situation ein anschauliches Bild: Die
Digitalisierung zwingt die Kinos in die Knie. Aus dieser Position können
sie zu Boden gehen - oder zum Sprung ansetzen.
## Totalvereinnahmung der Filmgeschichte durch die Kunstinstitutionen
Dass aus dem viel beschworenen Miteinander auch ein Aneinandervorbei von
Kunst und Kino werden kann, wird nirgendwo sinnfälliger als in dem Werk,
das auf der Tagung vermutlich am häufigsten erwähnt wurde, im Kino aber
niemals zu sehen sein wird. "The Clock" von Christian Marclay bringt die
Geschichte des Films auf die Dauer von 24 Stunden.
Für jede Minute eines Tages hat Marclay eine entsprechende Szene gefunden,
die Zeit auf der Leinwand wird dabei mit der Echtzeit des Zuschauers
synchronisiert. Eine halbe Million Dollar soll eine Kopie von "The Clock"
kosten, der ausschließlich in großen Galerien aufgeführt wird.
Wie um diese Totalvereinnahmung der Filmgeschichte durch die
Kunstinstitutionen und der Lebenszeit des Zuschauers durch ein
Monumentalwerk zu unterlaufen, nannte Horwath sein Programm ausgewählter
Kurzfilme "The Clock, oder: 89 min Freizeit". Nichts tun, außer zuzusehen,
wie andere Leute jede Menge Zeit haben, nichts wirklich Wichtiges zu tun:
Welchen schöneren Grund kann es geben, um immer noch und immer wieder ins
Kino zu gehen.
23 Jan 2012
## AUTOREN
Dietmar Kammerer
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