# taz.de -- Schlagloch Agitprop: Theaterkitsch? Ach was! | |
> Wie Bert Brecht macht auch René Pollesch Agitprop, aber nicht mehr für | |
> das Proletariat. Stattdessen spricht er die Mittelschicht an, die mehr | |
> will als Grillabende. | |
Die Krise ist so allumfassend, dass wir von großen Lösungen gar nicht mehr | |
sprechen: weil sie so unmöglich erscheinen, weil wir nicht altmodisch | |
aussehen wollen. | |
Vor langer Zeit habe ich im guten alten Gymnasium gelernt, das Theater sei | |
"der Kanal, in welchem sich das Licht der Weisheit durch den ganzen Staat | |
verbreitet". Und eine Weile daran geglaubt. Bis das Leben anfing. Doch | |
neulich streifte mich ein Hauch des alten Glaubens: Als der Schauspieler | |
Fabian Hinrichs rastlos ratlos über die Bühne der Berliner Volksbühne | |
irrlichterte, im Glitzertrikot und mit nacktem Oberkörper, milchgesichtig | |
und mit ungeheuer strahlenden Augen zu den Klängen von Springsteens | |
"Streets of Philadelphia" immer wieder den Satz "Es fehlt etwas, es reicht | |
uns nicht" skandierte, und gleich darauf: "Wir haben die besten Szenen | |
gestrichen, ihr würdet sie nicht aushalten. Und wir auch nicht." | |
Das S-Wort kommt in René Polleschs Stück "Kill your darlings" nicht vor, | |
und das große K-Wort nur einmal, aber siebzig Minuten lang geht es um die | |
Sehnsucht nach dem Zusammenfallen vom "Ändern der Umstände" und der | |
"Selbstveränderung", wie es in einem Manifest einmal hieß. Ums | |
Berührtwerden. Und das ist gar nicht einfach, weil die im Publikum alles | |
schon wissen. | |
So oft schon bei Jean Ziegler gelesen haben, wie viele Kinder jeden Tag | |
sterben, bei Eva Illouz, warum das mit der Liebe im Kapitalismus nicht | |
klappt, und zu viel von Zizek, um sich vor Reformkarren spannen zu wollen. | |
Und weil sie erst kürzlich die alten "Darlings" - Sinn, Seele, Liebe, | |
Gemeinschaft, Koexistenz von individuellem und gesellschaftlichem Glück - | |
gründlich dekonstruiert haben. | |
## Hippiescheiß reicht mir nicht | |
"Ja, früher", klagt der Suchende auf der Bühne, "da gab es die Chöre der | |
Proletarierkollektive, aber der einzige Chor, den der Kapitalismus jetzt | |
hervorbringt, das ist das Netzwerk." Und mit diesem Netzwerk - fünfzehn | |
Turner in grauen Trikots -, das ihn aufsaugen will, das ihn stützt und | |
streichelt, das er nicht greifen kann, mit diesem Netzwerk will er nicht | |
"in die Kiste", weil es nie und nimmer die "Differenzierungsmöglichkeiten | |
seiner Individualität" mit seinem "Nahweltbedarf" versöhnen kann. | |
Polleschs Stück versteckt alle Theorie hinter Hinrichs' abgründig simple | |
Sehnsucht nach dem Heilen, nach Größe, nach "Sturm und Seenot", nach mehr | |
als "Hippiescheiß" und "99 %". | |
"Wir hatten die Antwort, es war die beste Antwort. Sie war richtig, aber | |
nicht zu leben", ruft's in den Saal, und ironisch lugt unter dem säkularen | |
Erlösungsbegehren eine untergegangene Welt hervor: Hinrichs ist die | |
zeitgemäße Mutter Courage und spannt sich vor diesen Satz wie die Weigel | |
vor den Karren. Die Szene treibt historisch wehmütige Tränen ins Auge, aber | |
diese Courage verteilt keine Aufmunterungen, sondern Saunahandtücher. | |
## Pappherzen glühen auf | |
Und das Happy End - "Es wäre doch schön, wenn wir jetzt auseinandergehen | |
würden und etwas zusammen erlebt hätten" - ist ein gemeiner Trugschluss; | |
von irgendwoher souffliert der frühe Brecht: Glotzt nicht so romantisch. | |
Und das heißt bei Pollesch: "Glaubt ja nicht, das hätten wir für euch | |
gemacht. Das haben wir nur für uns gemacht. Nur für uns. Macht es einfach | |
selbst, für euch." Und dazu glühen die Pappherzen der Netzwerkturner auf. | |
Theaterkitsch? Ach was. Wenn Brecht noch einmal auf die Erde käme, würde er | |
genau das machen: von jedem Rest von Repräsentation oder Auftrag | |
emanzipiertes Theater. Agitprop für die wissende Mittelschicht, um ihre | |
Sinnsucht zu provozieren, ihren Suchtrieb zu locken. | |
Der alte Hunger der Arbeiterbewegung war ein physischer und ein geistiger: | |
nicht mehr ausgeschlossen sein von den Früchten der Arbeit und den Zielen | |
der bürgerlichen Emanzipation. Wir sind weiter. Angesichts der schnurrenden | |
Netzwerke von Billigelektronik und Überflüssigenspeisungen ist vom Hunger, | |
der von ganz unten kommt, wenig Bewegung zu erwarten. | |
Allenfalls der Hunger der Mittelschichten nach mehr als "vierzehn Tage | |
Sylt" oder "Grillabend" oder Sushi, die sehnsuchtsvolle Ahnung von "etwas, | |
das keiner kennt und das allen etwas sagt", der Hunger nach Moral, Anstand, | |
Sinn, Gerechtigkeit, nach einem anderen Umgang mit unserer Lebenszeit | |
könnte die "Darlings" noch einmal beatmen. | |
## Daraus entsteht kein Wir | |
Denn anders als die Schriftgelehrten und die Graffiti-Linke uns wahrmachen | |
wollen, ist diese Mittelschicht, was das Proletariat einst war: eine Klasse | |
von Menschen, ohne die nichts lief und denen es nicht reichte, was man | |
ihnen gab. Die in einer langen Lehre lernen mussten, dass es keine | |
individuellen Lösungen gibt. | |
So wie wir, die heute im Publikum sitzen, mehr oder weniger dunkel ahnen, | |
dass die Privatschule, das Erste-Klasse-Ticket in der Bahn, die | |
Zahn-Zusatzversicherung, der Garten zur Selbstversorgung die Zukunft für | |
uns nicht mehr sicher machen. Und für unsere Kinder schon gar nicht. Die | |
wir uns mit einem "Wir", das sich von niemand mehr irgendetwas | |
repräsentieren lässt, so schwertun und so "die besten Szenen aus unserem | |
Leben schneiden. Kill your Darlings, das ist, was wir leben, aber daraus | |
entsteht kein Wir". | |
Ob das Theater dabei hilft? Wer weiß. Diesen Abend lang jedenfalls wehte | |
ein kleiner Wind in Richtung auf das, worauf alle "große" Kunst einmal | |
hinauslaufen sollte: "Das Gegenteil der ,Kultur', wie wir sie kannten, ist | |
nicht Barbarei, sondern Gemeinschaft", so umschrieb Thomas Mann nach dem | |
Zusammenbruch der bürgerlichen Kunstepoche seine Hoffnung auf eine Kunst, | |
die nicht Religionsersatz - und nicht Entertainment, Spekulationsobjekt | |
oder Statuskonsumartikel - wäre, sondern profaner Kultus. | |
Und damit die Funktion erfüllt, für die das Theater einst von den Urhorden | |
erfunden wurde, die sich lange vor dem ersten theatron und der ersten | |
Kirche in Rhythmus und Klang als Gemeinschaft erfuhren, als ein Wir, das | |
mehr ist als die Summe von Individuen. Diese Erfahrung, oder den Wunsch | |
danach, kann man auch anderswo kriegen, aber das Theater wurde dafür | |
erfunden. | |
1 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Mathias Greffrath | |
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