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# taz.de -- die wahrheit: Der geheimnisvolle See
> Die mysteriöse Geschichte eines Gewässers, das niemals zufriert, und
> eines hageren Männleins in sonderbarer Tracht.
Er liegt weit hinten im Trettachtal bei Oberstdorf - dort, wo sich die
mächtigen Berge wie eine riesige Trennwand zwischen Österreich und
Deutschland schieben. Man munkelt, in dem Gebirgstal bezaubere der kleine
See nicht nur im Sommer die Wanderer mit seinem blau-grün-türkisen
Farbspiel, nein, sein größtes Geheimnis berge er im Winter: der
Christlesee.
Das Hoch namens "Cooper" lässt uns derzeit vor Kälte erstarren. Und hinten
im Trettachtal, wo sie den Winter gewöhnt sind, auch da bibbern sie bei 20
Grad minus, und nachts ist es noch kälter. Drei Stunden dauert der
Fußmarsch von Oberstdorf aus, ab und zu nur kommt ein für den Winter gut
gerüstetes Auto mit Sondergenehmigung. Es geht durch die Schneeberge von
Deutschlands südlichster Gemeinde - immer und immer weiter ins Gebirgstal
auf 916 Meter Höhe.
Dann liegt er vor einem, der Christlesee. Das heißt, ein bisschen muss man
sich auf die Zehenspitzen stellen, um über die Schneeberge am Wegrand
drüberzuschauen und ihn zu sehen. An sich ein unscheinbarer, dunkler
Gebirgssee - bis auf zwei helltürkise Stellen. So, als hätten sie
Plastikplanen ins Wasser geworfen, sind da ein paar farbige Flecken in dem
schwarzen Wasser zu sehen.
Und einige Bäume unter Wasser. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts, erzählt
man, wurden sie bei einem Lawinenabgang mitgerissen und landeten - gut
sichtbar auch jetzt im tiefsten Winter - in dem kleinen See. Genau das ist
das Besondere: das Wasser! Das sieht man vor sich hinkräuseln. Immer wieder
steigen leichte Dampfwolken auf. "Schauts mal, in der Mitte ist der ganz
schwarz", staunt eine Frau am Ufer. Während jeder anständige See bei dieser
Eiseskälte ordentlich zufriert, während Wasserwacht und Feuerwehr bei
einigen "Artgenossen" vor dem Betreten warnen, weil die Eisschicht noch zu
dünn ist, hat dieser Christlesee so was nicht. Keine Eisscholle, keine Spur
von Zufrieren. Noch nie ist hier ein Mensch Schlittschuh gelaufen - "Auch
bei 30 Grad minus nicht", sagt der Uroberstdorfer Bernhard Köcheler, der
mit seinem Taxi ein paar Gäste aus München und Stuttgart beim Hotel abholt.
Auf die Frage nach dem Warum schüttelt der Mann der Berge den Kopf und
murmelt noch was von "weils halt so isch" und noch ein "muss mal den Vater
fragen". Dann steigt er in sein Taxi, weg ist er. Die flotte
Tourismusdirektorin Heidi Thaumiller kommt des Weges, hat vom
Reporterbesuch am mystischen See gehört. "Das haben wir schon in der Schule
gelernt, dass der Christlesee niemals zufriert", erinnert sie sich. Zwei
Wanderer - gut eingepackt - bleiben stehen. "Ha, des hen mir uns au scho
gfrogt", kommt es in breitestem Schwäbisch. Die Heidi aus den Oberstdorfer
Bergen kennt die Antwort: "Da gibt es unglaubliche Höhlen und die liegen
unterirdisch in mehreren Kammern. Und unter der Erde gefriert es ja nicht".
Der Christlesee wird von diesen unterirdischen Quellen gespeist und so hat
er - das ganze Jahr über, im Sommer genauso wie im Winter - immer die
gleiche Temperatur: vier bis sechs Grad.
Im Sommer ist der Farb-Wunder-See arschkalt, viel zu kalt zum Baden. Im
Winter ist er, ganz anders als die Umgebung, richtig "bacherlwarm", eben
vier bis sechs Grad. Enten schwimmen drauf herum und manchen Wanderern wird
das erst bewusst, wenn man sie drauf anspricht. "Stimmt, irgendwas ist
komisch, ist anders hier", meint eine Frau mit Walking-Stöcken und flottem
Schritt. "Jetzt, wo sies sagen."
Den Namen hat der Christlesee, der geheimnisvolle, von einem jungen Mann
namens Christian. Ein Spross der Familie Jäger, die um 1764 hier wohnte.
Christian wird hier gerne mit Christl abgekürzt und seine Freunde gingen
halt hoch zum Christl am See. So entstand der Name Christlesee.
Weit geheimnisvoller ist eine andere Geschichte vom Christlesee. Aber die
kennt kaum mehr jemand im Tal. Gemeinsame Recherchen von Touristikern der
sportbegeisterten Gemeinde und örtlichen Historikern fördern schließlich
eine Geschichte zu Tage, die dem kleinen unscheinbaren See zusätzlichen
Glanz verleiht. Fündig werden sie in einem alten Sagenbuch. Dort wurde vor
120 Jahren ein Ereignis aufgeschrieben, das sich beim besten Willen nicht
genau datieren lässt. Es begab sich aber zu der Zeit, als von Murano aus
immer wieder mal Glasbläser und ihre Helfer loszogen und nach besonderen
Materialien für ihre grandiose Glaskunst suchten.
Denn es steht geschrieben, dass eines Tages ein hageres Männlein in
sonderbarer Tracht aus der Nähe von Venedig hier aufgetaucht ist. Fortan
soll jedes Jahr dieses kleine, fremde Männle eine Schaufel aus dem
naheliegenden Haus geholt und feinen Schlamm geborgen haben. "Diesen
trocknete es und packte ihn dann in ein Taschentuch. Wenn es nach getaner
Arbeit die Schaufel zurückgab, sagte es meistens: "So, jetzt hab ich wieder
auf ein Jahr genug zum Leben." Man munkelt, das Venedigermännle habe nicht
nur nach Goldschlamm, sondern auch nach Kobalt gesucht. Damit stellt man
dieses fantastische Blau her, das seit langer Zeit zum Färben von Glas und
Keramik verwendet wird. Man munkelt im Trettachtal, dass er damals
Goldschlamm gefunden hätte. Das Kobalt hat der Christlesee aber anscheinend
für sich behalten, das sieht man - besonders im Sommer - aus der Tiefe
dieses Sees leuchten, der übrigens die Wasserquelle für Oberstdorf ist.
Beinahe wäre der See und seine Quellen vor ein paar Jahren zur echten
Goldgrube für die Gemeinde in den Allgäuer Alpen geworden, als nämlich
schon begonnen wurde, Rohre zu verlegen, um das mineralhaltige Wasser
abzufüllen. Aber der Partner aus der Getränkeindustrie ist pleitegegangen,
bevor das Mineralwasser sich am Markt durchsetzen konnte. Aber angesichts
des geheimnisvollen Sees hinten im Trettachtal sind nur die wenigsten
traurig über diese Entwicklung.
6 Feb 2012
## AUTOREN
Klaus Wittmann
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