# taz.de -- Kolumne Bestellen und Versenden: Das Potenzial des Peinlichen | |
> Die klassische Peinlichkeit war an Akteure gebunden, die postmoderne | |
> Peinlichkeit wuchert anonym. "Erkenntnis durch Eklat" lautete die Devise | |
> des Autors. | |
Als Pennäler war mir nichts zu peinlich. Nicht nur Lehrer, auch die meisten | |
Mitschüler reagierten genervt, wenn ich Ahnungslosigkeit oder Ausdünstungen | |
exzessiv zelebrierte. In einem einsamen walk of shame sorgte ich für | |
betretene Mienen und allgemeines Unbehagen. Was damals unbegriffen | |
passierte, verstand ich erst Jahre später: Mit meinen pubertären | |
Interventionen wollte ich die Disziplinierungsanstalt Schule und die | |
Softpower der linksliberalen Lehrer herausfordern. | |
"Erkenntnis durch Eklat" lautete die geheime Devise meiner Sozialforschung. | |
Heute ist diese Strategie hinfällig, weil sich Lehrer und alle anderen | |
Machthaber - siehe Bundespräsident - gegen Peinlichkeit immunisiert haben. | |
"Den Berühmten und Mächtigen ist heute gar nichts mehr peinlich", heißt es | |
denn auch im Ankündigungstext zu der bald erscheinenden "Geschichte der | |
Peinlichkeit" von Christian Saehrendt. Peinlichkeit und Macht sind keine | |
Gegensätze mehr - verständlich ist da die Sehnsucht von Christian Ulmen, | |
der in seinem aktuellen Film "Jonas" das widerständige Potenzial des | |
Peinlichen nostalgisch re-enactet. | |
Beinahe jede ästhetisch und habituell irgendwie problematische Figur wurde | |
während meiner Schulzeit in den Achtzigern "peinlich" genannt. Die | |
Selbststigmatisierung als peinliche Figur barg da dissidente Möglichkeiten. | |
Heute taugt das Wort nicht mehr zur Personenbeschreibung, geschweige denn | |
als Denunziation. Nicht umsonst hat das Popmagazin Spex die Kategorie | |
"Peinlichstes Lieblingslied" längst aus seinen Jahrescharts getilgt. | |
## Peinlichkeit ist ein Verhältnis | |
Die Vermutung liegt nahe, dass sich Peinlichkeit im Zuge der Postmoderne | |
wie so vieles entkernt hat. Sie sitzt nicht mehr in den Dingen und in den | |
Menschen, sondern in Strukturen und Beziehungen. Peinlichkeit ist ein | |
Verhältnis. Im Englischen gibt es für diesen Sachverhalt das tolle Wort | |
awkward. Es meint "peinlich" aber noch viel mehr. Awkward ist jene | |
Stimmung, die sich einstellt, wenn nicht klar ist, nach welchen Regeln und | |
Codes man sich richten soll oder ob gerade überhaupt welche zur Verfügung | |
stehen. Wie mans macht, macht mans verkehrt: Die radikale | |
Verhaltensunsicherheit führt uns vor Augen, dass die scheinbar | |
selbstverständliche symbolische Ordnung auf wackligem Boden steht. | |
Der US-amerikanische Theoretiker Adam Kotsko behauptet in seinem Essay | |
"Awkwardness" sogar, dass wir in einem "Zeitalter der Awkwardness" leben. | |
Awkwardness sei allgegenwärtig geworden, weil in der permissiven | |
Gesellschaft Regeln immer wirkungsschwächer würden oder gleich ganz | |
verschwänden. Kotsko demonstriert dies daran, wie postfordistische | |
Arbeitsverhältnisse und romantische Beziehungen in Serien wie "The Office" | |
oder in Mainstreamkomödien über ewig adoleszente Männer inszeniert werden. | |
Allerdings brauchte es diesen Umweg über das Fiktionale gar nicht. | |
Jeder kennt aus dem eigenen Alltag die Probleme, die durch das Verschwimmen | |
der Grenzen zwischen Privatem und Professionellem entstehen: Gelten jetzt | |
gerade die Codes des Business Lunch oder die des After-Work-Drinks? Wie | |
genau habe ich meine immaterielle Arbeit zu performen? Wie begegne ich | |
ehemaligen Projektpartnern, wenn die libidinöse Intensität der gemeinsamen | |
Projektemacherei erloschen ist? Wer hier nicht die passenden Antworten | |
parat hat, gerät schnell in typische Awkwardness-Situationen. | |
## Fremdschämen | |
Während die klassische Peinlichkeit an peinliche Akteure gebunden war, | |
wuchert die postmoderne Peinlichkeit alias Awkwardness anonym. Wenn dann | |
aber das Berliner Stadtmagazin Tip immer am Jahresende "Die 100 | |
peinlichsten Berliner" kürt, ist das nichts anderes als der verzweifelte | |
Versuch, das Wuchern durch blöde Personalisierung unter Kontrolle zu | |
kriegen. Genauso versucht man sich mit dem beliebten "Fremdschämen" darüber | |
hinwegzutäuschen, dass die Scham in die neokapitalistischen | |
Kommunikationsverhältnisse eingeschrieben ist und sich nicht der sozialen | |
Unbeholfenheit Einzelner anrechnen lässt. Und ist nicht auch die | |
Feuilletonklage über die zaudernden "Schmerzensmänner" eine ängstliche | |
Verleugnung der Awkwardness? Heikle Ambivalenz soll hier aus der Anbahnung | |
verbannt werden. | |
Für Adam Kotsko ist die Awkwardness dagegen das Versprechen auf eine Art | |
der sozialen Interaktion, die nicht einem festen Regulativ folgt, sondern | |
viel Raum lässt für freie Improvisation. Eine Politik des Peinlichen: | |
Rückblickend habe ich mich genau dafür als Klassenhinterbänkler zum Affen | |
gemacht. | |
13 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Aram Lintzel | |
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