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# taz.de -- Kolumne Trends und Demut: Hat nichts mit Jesus zu tun
> Während Freizeitpropheten den Bewohner der englischen Hauptstadt auf die
> Nerven gehen, sollte der clevere Ungläubige lernen die attrakiven Seiten
> zu nutzen.
Neulich stand am Eingang meines Supermarktes ein Mann in Anzug und
verteilte engagiert weiße Zettel. Wie rund 99,99 Prozent der
reizüberfluteten Londoner winkte auch ich höflich ab, worauf wie aus der
Pistole geschossen kam: "Keine Angst, hat nichts mit Jesus zu tun!"
Auf dem Flyer wurde für ein neues Nagelstudio geworben, aber die Antwort
des Manns machte mich aus anderen Gründen stutzig. Zwar gehen die vielen
Hobbyprediger, die in der Fußgängerzone stehen und monologisieren, den
meisten Londonern auf die Nerven. Doch war Jesus ein derartiges Reizthema
geworden, dass man ihn schon als Joke für sein neues Nagelstudio verbraten
konnte?
Etwa um die gleiche Zeit verkündete Londons Lieblings-Popkulturphilosoph
Alain de Botton in einem Interview, dass er den Bau eines 46 Meter hohen
Turmes inmitten des Bankenviertels plane, damit arme Atheisten wie er in
Zukunft einen Tempel der Zusammenkunft finden könnten. De Botton sieht
Religion nicht als Bedrohung, sondern vielmehr als gigantischen
Selbstbedienungsladen.
Der Atheist von heute solle lernen, sich die Rosinen, die attraktiven
Seiten der Kirche selbstbewusst herauszupicken, von der Ästhetik bis zur
rhetorischen Kraft der Predigt. Es sei kein Widerspruch, nicht an Gott zu
glauben, gleichzeitig aber euphorische Schwindelanfälle zu bekommen, sobald
man eine barocke Kirche betrete oder vor Raffaels Sixtinischer Madonna
stehe.
Dann hielt de Botton zum selben Thema einen Vortrag, was dazu führte, dass
fünfzigjährige Intellektuelle wie befreit von ihren Stühlen sprangen, als
habe man sie gerade zur Revolution aufgefordert. Als die Briten vergangenen
Dienstag Valentine's Day feierten, hätte de Botton live miterleben können,
dass die heimische Wirtschaft bereits lange vor ihm begriffen hat, was man
von der Kraft der Religion Praktisches lernen kann.
Wie in einer nicht enden wollenden Predigt wurde das "Fest der Liebe" in
den vergangenen Wochen auf so ziemlich allen Kanälen und mit derartiger
Penetranz beworben, dass London am Dienstag schließlich zu einer blökenden,
volltrunkenen Schafsherde in roten Miniröcken, mit Plastikrosen und
Herzballons verschmolz.
Ähnlich hordenartig wurden während der Schlussverkäufe die Läden gestürmt:
Halt und Erlösung durch ein Paar Nike-Airs. Dass ausgerechnet vor diesen
globalen Einkaufsketten Londons Prediger stehen, schließt den Kreis: Wenn
sich der Atheist ab sofort nicht mehr schämen muss, unbeschwert die schönen
Seiten von Religion zu genießen, kann man dem Fußgängerzonenprediger nicht
verübeln, dass er sich wiederum den Strategien der Werbung anpasst und mit
seinen Flyern vom Promomenschen kaum noch zu unterscheiden ist.
21 Feb 2012
## AUTOREN
Julia Grosse
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