# taz.de -- Die Wahrheit: Lyrik für Wahnsinnige | |
> Prosa ist für Erdferkel, Lyrik für Bergsteiger – dieses einfache Wort ist | |
> ohne den ordnungsgemäßen Gebrauch von Nachtsichtgeräten und... | |
Prosa ist für Erdferkel, Lyrik für Bergsteiger – dieses einfache Wort ist | |
ohne den ordnungsgemäßen Gebrauch von Nachtsichtgeräten und das | |
fachgerechte Verkleben von Zeilenbruch kaum zu verstehen. Das wurde | |
mehrfach untersucht, gilt als bewiesen und ist gleichzeitig eine Chiffre | |
für das Weltkulturerbe, wenn man es in einem Rucksack trägt. | |
Aber auch sonst ist klar: Das Wort Quadrat wurde nur erfunden, weil es sich | |
auf Spagat reimt. Pferde, die Sonette schreiben, können nicht mehr als | |
Hering verarbeitet werden. Hymnen sind kein guter Zeitvertreib für Vasen, | |
die Neutralität von Begriffen gilt in Oden über Gleitsichtbrillen oft als | |
unbegründeter Zentralismus. „Poesie“, sagte schon Adam zu Eva, „können … | |
uns sparen.“ Trotzdem kennt jeder jemanden, der ein Goethe-Gesicht | |
nachmachen kann. | |
Die Kraft der Dichtkunst ist dennoch weiterhin unbestritten: Der | |
Expressionismus von Küchenmöbeln findet seinen adäquaten Ausdruck in der | |
Lyrik von Pfandflaschen und Einmachgläsern. Mit Balladen kann man Bären | |
töten. Elegien dienen zur Entfernung von Zahnstein bei Fischen. Doch | |
aufgepasst: Menuette enden oft als Kannibalismus, tragbare Lehmbauten | |
eignen sich nicht für Heldengedichte, ein Distichon, falsch zusammengebaut, | |
verstellt schnell das ganze Wohnzimmer. | |
Nachttischschublade, Versuch macht klug, und Raum für Notizen gelten als | |
besonders erotische Sexstellungen. Das Gleiche lässt sich sagen für: Nacht | |
und Nebel, Mittagspause, Was meinst du mit „es machen“?, Magnettafel, Stil | |
und Gedanke, so ungefähr, je nachdem, Datum, Anliegen, Ebenen, Proportion, | |
Prinzipientreue, Präsenz und Schach oder auch Wesen im Dasein, Freiheit und | |
Sicherheit, wissenschaftliche Theorie als Ort theoretischer Möglichkeiten, | |
Versuchsanordnung für den Weltuntergang, Matthias Sammer. Eine blaue Blume | |
besteht auch nur aus zwei aufgeblähten Blättern und einem hervorragenden | |
Stängel. Trotzdem haben die genannten Positionen alle nichts mit Lyrik zu | |
tun. | |
Gedichte aus Zweckgemeinschaften sind Allegorien für Enthaltsamkeit, | |
Futterneid und Fugenkitt. Man kann nur tun, was einem in einer Situation | |
möglich ist. Wer ständig Paarreime benutzt, der lässt sich auch mit seinem | |
Hund fotografieren. | |
Ein Vers behauptet ein Ort im logischen Raum zu sein, ist aber nur deshalb | |
zu verstehen, weil er der Welt abhanden gekommen ist. In einschlägigen | |
Geschäften kann man deshalb Lyrik gegen Hypnose-Gutscheine und | |
Halluzinations-Bons eintauschen. Sich nach einem schweren Unfall in ein | |
verzerrtes Hotelzimmer zu begeben, bis alles wieder in Ordnung ist, ist | |
aber kein Gegensatz, sondern völlig normal, obwohl es kein Unterschied ist. | |
Wahnsinn ist die Möglichkeit, Abschied von einem eingebildeten Dasein zu | |
nehmen. Deshalb denkt der Mensch bei Metamorphosen immer an eine positive | |
Veränderung, vor allem weil es Duschhaube und Schmetterling gibt. Erst das | |
Unvereinbare aber ist ein Gedicht. „Vor dem Haus sitzt ’ne Laus!“ – das… | |
niemals schöner ausgedrückt worden. | |
28 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Jan Ullrich | |
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