# taz.de -- Das Fondue - ein Symbol der 1970er: Alle aus einem Topf | |
> Wie ein in Vergessenheit geratenes alpenländisches Bauernessen aus dem | |
> Mittelalter das schönste Symbol der Protestgeneration wurde: das sozial, | |
> sinnliche und befreite Fondue. | |
Bild: Schokoladen-Fondue: Die Schwierigkeit besteht darin, die Schokomasse bei … | |
Mitte der siebziger Jahre, dreißig Jahre nach Kriegsende, kommt der große | |
Schnitt: der Fortschrittsglaube wird in Frage gestellt. Debatten über die | |
Grenzen des Wachstums, die Endlichkeit natürlicher Ressourcen und den | |
Schutz der Natur und Umwelt werden schon seit Ende der Sechziger geführt, | |
doch in Folge der Energiekrise lassen sie sich nicht mehr marginalisieren | |
und erreichen die Öffentlichkeit. Es ist ein fundamentaler Einschnitt, der | |
in das von stetig steigendem Wohlstand bestimmte Selbstverständnis | |
einbricht und alle Lebensbereiche berührt, auch die täglichen Ernährungs- | |
und Essgewohnheiten. | |
Das neue Denken stellt unbequeme Fragen nach der Herkunft von | |
Lebensmitteln, nach ihren Bestandteilen, nach chemischen Zusätzen im Essen | |
wie Konservierungs- und Farbstoffen, nach dem Gehalt an Spurenelementen. In | |
den siebziger Jahren ging es der Protestgeneration darum, anders zu leben, | |
zu lieben, zu feiern, zu wohnen und zu essen. Das schönste Symbol für das | |
Lebensgefühl dieser Zeit ist neben dem Couscous das Fondue, weil es ein | |
unkompliziertes Gemeinschaftsessen ist, was nicht solistisch, sondern mit | |
anderen am schönsten ist. Das gemeinsame Essen aus einem einzigen Topf | |
bietet sinnlichen Genuss und wärmt die Beteiligten. | |
Der alte Traum vom gesunden Essen, den schon die Lebensreformbewegung | |
realisieren wollte, wird unter neuen Vorzeichen belebt. Nun entsteht | |
allmählich die ökologische Landwirtschaft. Und ein verändertes | |
Geschmacksideal: Brot soll wieder nach dem Korn schmecken, aus dem es | |
gebacken wurde, nicht von chemischen Zusätzen und Geschmacksverstärkern | |
verfälscht werden. Es wird ein puristischer Geschmack angestrebt, der von | |
der Ökobewegung weiter entwickelt wird und im Gegensatz zu den | |
standardisierten Produkten der Foodindustrie steht. | |
Die ersten Biohöfe, die von den Pionieren der Ökobewegung gegründet werden, | |
sind subsistenzwirtschaftliche Abenteuer, die verlassene kleinbäuerliche | |
Höfe wiederbeleben. Fehlendes Kapital wird mit Idealismus und | |
Gemeinschaftssinn ausgeglichen. Die Pioniere backen ihr Brot selbst, das, | |
wie alle Produkte, die sie gemeinschaftlich und meist in Handarbeit | |
erzeugen, einen anderen Geschmack hat. | |
## Vollwerternährung und Makrobiotik | |
Das aus Vollkornmischungen gebackene Biokastenbrot mit Karottenschnipseln | |
hat hier seinen Ursprung. Der gesunde Geschmack bleibt nicht auf Brot und | |
Backen beschränkt, die Ökopioniere entwickeln ihr eigenes Rezeptrepertoire: | |
Vollwerternährung und Makrobiotik wird nicht nur für Kranke und Adipöse ein | |
Thema, Körnerbrötchen, Bratlinge, Vollkornnudeln, fleischlose Aufstriche | |
und gesunde Suppen werden mit der Ökobewegung bekannt. | |
Gesund ist aber auch, dass es zu jeder Bewegung eine Gegenbewegung gibt. In | |
den Siebzigern wird nicht nur bei Kindern ungesundes Essen Kult: Pommes, | |
Ketchup, Pizza, Kalter Hund, Softeis, Schmelzkäse mit Räucheraroma und | |
Erdnussbutter-Toast. Marshmallows am Lagerfeuer rösten und dazu Lieder von | |
Hannes Wader, Franz Josef Degenhardt und Reinhard Mey zu singen, gehört zu | |
den unvergesslichen Erlebnissen, wenn man Ende der Siebziger jung ist. | |
Im Dezember 1971 eröffnet in München die erste deutsche Filiale von | |
McDonald’s, Burger King zieht nach. Paradoxerweise bedrohen sie die | |
traditionellen Imbisskioske nicht. Hier gibt es eine neue Stufe der | |
Standardisierung: Viele kleine Imbissläden greifen ganz auf industrielle | |
Produkte zurück. Zugleich geht die Hochrüstung der privaten Haushalte mit | |
Küchentechnik weiter: In den Siebzigern boomen zeitsparende Spülmaschinen | |
und stromfressende Dunstabzugshauben. | |
Nach den Kühlschränken werden separate, größere Tiefkühlschränke populär, | |
und mit ihnen zieht die tiefgekühlte Fertigkost in die Haushalte ein. Das | |
verändert das Einkaufsverhalten, Konserven verlieren an Bedeutung. Essen | |
kann jetzt zeitsparend eingefroren und aufgetaut werden. Damit werden auch | |
die festen Essenszeiten aufgeweicht. Mahlzeiten können jetzt zeitlich | |
flexibel und „nebenbei“ zubereitet und eingenommen werden. Das hat auch | |
Folgen für die Gastronomie, mit Convenience Food können Personalkosten | |
gesenkt werden – gelernte Köche werden allmählich verzichtbar. In den | |
Siebzigern sind diese Prozesse erst im Entstehen, noch gibt es die Lust, | |
Pizza zu Hause selbst zu machen, bunt zu belegen und fett mit Schnittkäse | |
zu überbacken. | |
## Sprüche aus der Kaiserzeit | |
Der folgenreichste Paradigmenwechsel spielte sich am heiligen Familientisch | |
ab. Während die Gesellschaft schon in der Moderne angekommen war, galten | |
noch Sprüche aus der Kaiserzeit wie „So lange du die Füße unter meinen | |
Tisch steckst“ und „Mit vollem Mund spricht man nicht“. Sich nicht mehr | |
durch autoritäre Tischzucht und Mahlzeitordnungen knechten zu lassen, | |
bedeutete fundamental, jegliche repressive Ordnung abzuschaffen. Es begann | |
beim Besteck, das in Frage gestellt wurde. So wurde orientalischer Couscous | |
beliebt, nicht nur weil er exotisch würzig schmeckt, sondern weil man ihn | |
mit der Hand essen konnte, was nicht nur sinnlich, sondern auch erotisch | |
sein kann. | |
In den Siebzigern wird Fondue wiederentdeckt und populär. Bis zu dieser | |
Zeit war es ein altes, in Vergessenheit geratenes alpenländisches | |
Bauernessen aus dem Mittelalter gewesen, das mit dem Aufkommen des Tellers | |
aus der Mode gekommen war. Eigentlich ist es ein Resteessen, bei dem harter | |
Käse geschmolzen und mit Brotbrocken aufgesogen wird. Bergbauern hatten es | |
aus Mangel an Geschirr aus einer großen Schüssel gegessen, wie die Kappeler | |
Milchsuppe, die mit dem Fondue nur verbindet, dass sie aus einem | |
gemeinsamen Topf gegessen wird. | |
## Gemeinschaftliches Garen | |
Fondue trifft den Nerv der Zeit auch geschmacklich: Geschmolzener Käse war | |
damals so beliebt wie überbackener Käse. Die Mode wird schnell variiert: | |
Der Topf wird auch mit Öl oder gewürzter Brühe gefüllt und darin werden | |
Fleisch-, Gemüse- und Fischstückchen gegart. In Asien heißen solche | |
Zubereitungen mit Brühe „Feuertöpfe“, die Brühe gewinnt durch das | |
gemeinschaftliche Garen an Aroma und wird am Ende an alle Beteiligten | |
verteilt und getrunken. | |
Auch eine süße Variante wurde eingeführt, Schokoladen-Fondue: Im Topf | |
befindet sich heiße, geschmolzene Schokolade, in die Kekse und Früchte | |
getaucht werden. Die Schwierigkeit besteht darin, die Schokomasse bei der | |
richtigen Temperatur zu halten. Das gilt auch für die Käsecreme, die nicht | |
klumpen, nicht zu dick und nicht zu dünn geraten soll. | |
3 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Till Ehrlich | |
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