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# taz.de -- Studie zum Männerbild im türkischen Militär: Mit Absicht ramponi…
> Pinar Selek untersucht, wie die Armee Jungs zu Männern macht. In der
> Türkei ist sie nun in einem absurden Prozess angeklagt.
Bild: Weiterhin bestehe das Ideal der türkischen Armee nicht darin, die Soldat…
Es gibt keine Alternative. Nicht einmal eine Altersbegrenzung. Zwar gibt es
offiziell gegenwärtig rund eine Million türkischer Männer, die sich auf
legale oder illegale Weise um den Militärdienst drücken. Aber, sofern sie
sich nicht der Handvoll Kriegsdienstverweigerer anschließen oder nicht das
Land verlassen und sich daher freikaufen dürfen, werden sie früher oder
später tun, was man von ihnen verlangt und was 390.000 Männer in der
fünftgrößten Armee der Welt zur Stunde tun. Irgendwann sind alle Tricks
ausgeschöpft, ist man das Leben im Ungewissen leid, wird der nicht
geleistete Militärdienst zum beruflichen oder privaten Hindernis (etwa bei
der Heirat). "Man ergibt sich", wie der Eintritt in die Armee im Türkischen
wörtlich heißt.
"Armee und Schulen sind dazu da, um aus Bauern Franzosen zu machen",
lautete ein geflügeltes Wort im napoleonischen Frankreich. Pinar Selek
würde ergänzen: Die Armee ist dazu da, um aus Jungen Männer zu machen,
bestimmte natürlich. Durch Gewalt, Zwang und Maßregelung, durch Unterricht,
etwa in Sexualkunde, aber auch durch "eigene" Unternehmungen,
Bordellbesuche und Besäufnisse inklusive. Wie genau dieser Prozess sich
vollzieht, wie diese Erfahrungen die Persönlichkeit von Männern
beeinflussen, ist Gegenstand ihres Buches "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann
gedrillt", das nun auf Deutsch erschienen ist.
Selek wird zugegen sein, wenn ihr Buch Dienstagabend in der Heinrich Böll
Stiftung in Berlin vorgestellt wird. Seit einigen Monaten ist sie Gast der
deutschen Sektion der Schriftstellervereinigung PEN; das Stipendium wurde
auf drei Jahre verlängert.
In ihrer Wohnung im Stadtteil Wedding hängen Erinnerungen an Istanbul an
den Wänden, alle paar Minuten erklärt sie Anrufern auf Türkisch,
Französisch oder Englisch, dass sie gerade keine Zeit hat, aber ganz sicher
zurückrufen wird. Selek ist bekannt, in der Türkei sowieso, aber inzwischen
auch im Ausland. Und das liegt nicht nur an ihren Büchern, die sich mit dem
Militär, Kurden, Armeniern oder Homosexuellen beschäftigen, sondern auch,
weil sie Protagonistin eines Gerichtsverfahrens ist, das man selbst in
einem semidemokratischen Land wie der Türkei nicht alle Tage sieht.
36 Jahre Haft drohen ihr - für einen Anschlag, bei dem es für ihre
Mittäterschaft keinen Beweis gibt, aber ernste Zweifel, ob es überhaupt
einer war. Belastet wird sie allein durch die unter Folter erpresste und
später zurückgezogene Aussage eines vermeintlichen Komplizen, der
inzwischen rechtskräftig freigesprochen ist. Und das einzige der vielen
Gutachten, das von einem Bombenschlag ausgeht, stammt von der Forensikerin
Sevil Atasoy, die nun im Verdacht steht, im Auftrag des Militärs ihre
Kollegen von der Universität Istanbul ausspioniert zu haben.
"Ich fühle mich in Kafkas 'Prozess' versetzt", sagt Selek. "Darum habe ich
mich nie zu den Anschuldigungen geäußert." Sie klingt nicht wie eine
Militante, die Einlassungen zur Sache aus Prinzip ablehnt, sondern wie eine
Frau, die um ihre Würde kämpft. Und Recht oder zumindest Logik fordert.
Zwölf Jahre liegen die Ereignisse zurück, die sie bis heute verfolgen. Am
9. Juli 1998 kommt es im Ägyptischen Basar in Istanbul zu einer Explosion;
sieben Menschen sterben, 127 werden verletzt.
Die Behörden vermuten eine Gasexplosion. Zwei Tage darauf wird Selek
verhaftet. Sie ist 26 Jahre alt, hat gerade ihre Magisterarbeit in
Soziologie über Transsexuelle beendet und recherchiert über die Kurdische
Arbeiterpartei (PKK). Unterstützung einer terroristischen Vereinigung,
lautet der Vorwurf. Sie soll die Namen ihrer Interviewpartner preisgeben.
Sie weigert sich. Auch unter Folter. Wenige Wochen später hört sie im
Fernsehen, dass man ihr vorwirft, im Auftrag der PKK auf dem Markt eine
Bombe gelegt zu haben.
## Freispruch aufgehoben
Zweieinhalb Jahre hat sie wegen dieser Anklage in Haft verbracht, ehe sie
freigesprochen wurde. Allerdings hob der 9. Senat des
Kassationsgerichtshofs - jene Kammer, die auch die Verurteilung des
türkisch-armenischen Publizisten Hrant Dink wegen "Verunglimpfung des
Türkentums" gebilligt hatte - das Urteil auf. Ende 2009 bestätigte der
Oberste Gerichtshof, dass der Fall neu verhandelt werden muss, obwohl
selbst die Generalstaatsanwaltschaft auf Freispruch plädiert hatte. In den
nächsten zwei Monaten wird das Urteil erwartet.
"Ich bin traumatisiert", sagt Selek. "Aber ich bin nicht geflohen." Dann
fügt sie, vielleicht um dem Eindruck von Pathos vorzubeugen, hinzu: "Ich
habe Angst. Ich habe immer Angst."
Ihr Großvater war in den Sechzigerjahren Abgeordneter der Keimzelle der
Neuen Linken, der Türkischen Arbeiterpartei; ihr Vater, der sie mit ihrer
Schwester vor Gericht verteidigt, ist ein bekannter Anwalt und wurde nach
dem Putsch 1980 selbst verhaftet.
Anders als viele Kinder linker Eltern mischt sich Pinar Selek politisch
ein. Sie beschäftigt sich mit den Belangen von Homosexuellen, ist bei der
Gründung der feministischen Zeitschrift Amargi dabei und interessiert sich,
wie sie es selbst formuliert, als "weiße Türkin" für die Kurden. "Der
Wissenschaftsbetrieb hat mich nie gereizt", sagt sie. "Ich wollte mitten im
Leben bleiben." Zum Beispiel im Leben der Soldaten.
Nach der Studie "Mehmets Buch" der Journalistin Nadire Meter, das vor
einigen Jahren bei Suhrkamp erschien, ist Seleks Buch die zweite
Innenansicht der türkischen Armee, die auf Deutsch vorliegt. Während Meter
wegen "Distanzierung des Volkes vom Militär" angeklagt wurde, gab es gegen
Selek niemals Ermittlungen wegen politischer Delikte. Ihre Erklärung: "Sie
hatten wohl kein Interesse daran, mich zu einer verfolgten Autorin zu
machen." Anders als in "Mehmets Buch" geht es bei Selek nicht um den Krieg
gegen die PKK. Sie habe sich weniger für "die Schilderung des Erlebten
selbst" interessiert, schreibt sie, als "vielmehr für die Art, in der sich
Männer an das Erlebte erinnern."
Selek behandelt die Armee als Institution des Patriarchats. Und als
zentrale Etappe männlicher Sozialisation. "Die Vaterposition erreicht ein
Mann dann, wenn er beschnitten wurde, Wehrdienst geleistet, heterosexuelle
Erfahrungen gesammelt und Arbeit gefunden hat." Dann erst folge die
Endstation: die Ehe.
Für ihr Buch hat sie Interviews mit 58 Männern ausgewertet, auf 50 bezieht
sie sich in der deutschen Ausgabe. Der älteste ist Jahrgang 1919, der
jüngste Jahrgang 1982; sie stammen aus allen Ecken des Landes, gehören
unterschiedlichen Milieus an, repräsentieren das gesamte politische
Spektrum und haben an verschiedenen Orten gedient. Was Selek aus deren
Erzählungen subtrahiert, ist vor allem die Erfahrung von Maßregelung und
Gewalt. Wenn man den Deckel ein klein wenig lüfte, heißt es im Resümee,
offenbare sich der türkische Mann als "ramponiertes Wesen".
Ob ihre vernichtende Kritik nicht den Wandel ignoriert, den die
Gesellschaft durchlebt? "Das Militär versucht hartnäckig, sich diesem
Wandel zu entziehen, was vor allem am Krieg liegt", antwortet Selek. Aus
den Berichten der Soldaten könne man zwar schlussfolgern, dass in den
Kasernen der Westtürkei die nackte Gewalt abgenommen habe. Die Prinzipien
aber seien unverändert. Weiterhin bestehe das Ideal der türkischen Armee
nicht darin, die Soldaten zu "Staatsbürger in Uniform" zu machen, sondern
alle Bürger zu "Soldaten ohne Uniform".
## Übervater Staat
Der Staat sei ein Art "Übervater". Das Recht, seine Kinder zu schlagen und
zu lieben, das jedem Familienvater zugestanden werde, gelte erst recht für
ihn. Dieses widersprüchliche Verhältnis spiegle sich in der Gesellschaft
wider: "Man kann beobachten, dass dieselben Leute, die ihre Einberufung mit
einem Fest feiern, erzählen, dass sie das Ganze schnell hinter sich bringen
wollen."
Trotz einiger Passagen, die allzu sehr im Jargon der Genderforschung
daherkommen, liest sich das Buch wegen Seleks Aufmerksamkeit für das
alltägliche Detail leicht. Doch so differenziert ihre Darstellung ausfällt
- nach der Lektüre hat man nicht den Eindruck, dass die Türkei nur aus
abgerichteten Ungeheuern besteht -, fehlt etwas doch: der Islam. Aber kann
man das Patriarchat in der Türkei verstehen, ohne den Islam zu
berücksichtigen? Und konstruiert sich Männlichkeit tatsächlich, wie sie im
Vorwort zur deutschen Ausgabe betont, in Japan, Kenia und Australien auf
ähnliche Weise?
"Ich habe einen Aspekt des Patriarchats untersucht, in dem die Religion
keine große Rolle spielt", verteidigt sie sich. "Die Religion ist wichtig,
aber ich halte es für falsch, alles auf den Islam zurückzuführen", sagt
sie.
Auf einen Job als hauptberufliche Islamkritikerin bewirbt sie sich
offensichtlich nicht. Aber wie ist es mit dem Gegenpart als
foucaultgeschulte Orientalismuskritikerin? Für einen Moment scheint es, als
wolle Selek zu einer jener Reden ansetzen, die oppositionelle
Intellektuelle aus islamischen Ländern im Gespräch mit Westeuropäern gern
halten; Reden, die im Parforceritt von der Hexenverbrennung über den
Kolonialismus zu George W. Bush sputen, nur eine patriarchale Soße erkennen
wollen und bei aller nachvollziehbaren Zurückweisung einer altväterlichen
Selbstgerechtigkeit leicht in einen lächerlichen Relativismus abgleiten
können. Doch dann fügt sie hinzu: "Es wäre absurd, die Aufklärung in Europa
zu übersehen."
Sie habe bemerkt, dass hier einige Dinge anders diskutiert würden. Mehr
will sie zur hiesigen Debatte nicht sagen. "Ich muss mich noch
zurechtfinden." Sie will hier promovieren und ihren ersten Roman
fertigstellen. Wenn nicht ein Wunder geschieht, wird sie dazu mehr Zeit
bekommen, als sie es je wollte.
Pinar Selek: "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche
Identitäten". Orlanda Verlag, 237 Seiten, 14,90 Euro
13 Apr 2010
## AUTOREN
Deniz Yücel
## TAGS
Schwerpunkt Türkei
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