# taz.de -- Debatte Postdemokratie: Merkel Bonaparte | |
> Mit ihren Bürgergesprächen inszeniert sich die Kanzlerin als volksnah. | |
> Diese Machttechnik ist beides: feudal und zeitgemäß. Um mehr | |
> Partizipation geht es nicht. | |
Bild: Die Spitze der Exekutive inszeniert sich als unmittelbarer Ansprechpartne… | |
Haben Sie Lust, Angela Merkel einmal gehörig die Meinung zu sagen? Träumen | |
Sie vielleicht sogar davon, die Politik der Bundesregierung mit konkreten | |
Vorschlägen auf ein ganz neues Gleis zu bringen? Wenn ja, haben Sie morgen | |
in Heidelberg die Gelegenheit dazu. Das jedenfalls suggeriert die | |
Ankündigung des zweiten von insgesamt drei Bürgergesprächen der Kanzlerin. | |
Seit dem 1. Februar besteht die Möglichkeit, im Internet mit der | |
Regierungschefin in einen „Dialog über Deutschlands Zukunft“ zu treten. Im | |
Mittelpunkt stehen dabei drei Fragenkomplexe: Wie wollen wir zusammenleben | |
und denen helfen, die noch am Rande stehen? Wie sichern wir unseren | |
Wohlstand? Wie lernen wir als Gesellschaft? Gute Ideen, so ließ sich Merkel | |
vernehmen, werde sie an die zuständigen Ministerien weiterleiten. | |
Was hier so bürgernah klingt, ist in demokratiepolitischer Hinsicht äußerst | |
problematisch. | |
Nicht nur ist fraglich, ob durch die Initiative der CDU-Politikerin die | |
notwendige Trennung von Partei- und Regierungsarbeit gewahrt bleibt oder | |
der zu erwartete Ideen-Input den vom Kanzleramt betriebenen Aufwand und den | |
damit verbundenen Einsatz von Steuergeldern rechtfertigen kann. Schwerer | |
aber wiegt der Einwand, dass die Bürgerbeteiligung nur simuliert ist. | |
Beim ersten Bürgergespräch in Erfurt nahm sich die Kanzlerin knappe 90 | |
Minuten Zeit für die Vorschläge von 100 ausgewählten Bürgern. Was als | |
partizipatorische Neuerung angepriesen wird, ist kaum mehr als eine | |
modernisierte klassische Machttechnik der von oben gelenkten Demokratie, | |
für die der italienische Nietzsche-Forscher Domenico Losurdo den Ausdruck | |
Soft-Bonapartismus prägte: Die Spitze der Exekutive inszeniert sich als | |
unmittelbarer Ansprechpartner der Bürger, deren Interessen es gegen | |
unfähige Funktionäre aus Parteien und Gewerkschaften durchzusetzen gelte. | |
Wer so agiert, gibt sich den Anschein, ausgesprochen pragmatisch und vor | |
allem überparteilich zu sein. Angesichts einer darniederliegenden FDP und | |
im Vorfeld einer immer wahrscheinlicher werdenden Neuauflage einer großen | |
Koalition mit der SPD hat die Kanzlerin guten Grund, sich als Macherin zu | |
inszenieren. Ihr fehlendes Charisma schlägt dabei nicht negativ zu Buche. | |
Denn gerade Merkels zurückhaltender, selten auftrumpfender Führungsstil | |
unterstützt die bonapartistische Suggestion, dass einzig und allein sie | |
selbst gewährleisten könne, dass die langfristigen Interessen der Mehrheit | |
der Bevölkerung über den Tag und die Legislaturperiode hinaus | |
berücksichtigt werden. | |
## Die neue Expertenaristokratie | |
Die zahlreichen Experten, die von Merkel in das Dialogverfahren einbezogen | |
werden, erscheinen freilich wenig geeignet, diesem Anspruch zu genügen. So | |
wird ausgerechnet jene Arbeitsgruppe, die neue Formen der Partizipation | |
diskutieren soll, von Politik- und Unternehmensberatern dominiert, die vor | |
allem die strategische Wirkung partizipatorischer Verfahren im Auge haben. | |
Diese werden in elitären Kreisen zunehmend als geeignete Methode | |
betrachtet, um eine Politik sozialen Kahlschlags und privater Bereicherung | |
durch die gelenkte Mitsprache der Bürger besser zu legitimieren. | |
In einer Zeit, wo der Konsens für neoliberale „Reform“-Projekte brüchig | |
wird, sieht etwa die Bertelsmann-Stiftung in der Implementierung von neuen | |
Beteiligungsformen eine Chance, die Politik und vor allem die Bürger wieder | |
besser zu steuern. Die Erprobung solcher Befriedungstechniken reicht bis in | |
die siebziger Jahre zurück. Als die Proteste gegen die Atomkraft nicht mehr | |
zu ignorieren waren, setzte auch die damalige Bundesregierung auf | |
Bürgerdialoge. Der Unmut der Umweltbewegung sollte sich hier artikulieren | |
können, aber für die Entscheidungen blieb er letztlich unerheblich. | |
Verbindliche Aussagen wurden nicht getroffen. Man hoffte darauf, einen Keil | |
zwischen gesprächsbereiten Gegenexperten und jenen AKW-Gegnern zu treiben, | |
die ihren Widerstand mit einer radikalen Kritik am kapitalistischen System | |
verbanden. | |
Das strategische Kalkül wurde später beim Einsatz des Mediationsverfahren | |
zur Befriedung der Auseinandersetzungen um den Ausbau des Flughafens in | |
Frankfurt am Main noch deutlicher: Nachdem die SPD-geführte Regierung | |
Hessens durch den Konflikt um die Startbahn West in arge Bedrängnis geraten | |
war, setzte Ministerpräsident Hans Eichel in den neunziger Jahren auf neue | |
Formen der politischen Beteiligung. Der Streit sollte sich vom politischen | |
Kern auf weniger brisante Sach- und Verfahrensfragen verlagern. Der | |
Widerstand wurde durch die Einbindung einer Reihe von Organisationen der | |
„Zivilgesellschaft“ in seiner Legitimation geschwächt und dadurch deutlich | |
eingedämmt. | |
## Einhegen und Kanalisieren | |
Was es bedeuten kann, auf den Bürgerdialog als politisches Steuerungsmittel | |
zu lange zu verzichten, musste zuletzt Baden-Württembergs abgewählter | |
Ministerpräsident Stefan Mappus erfahren. Das Scheitern von dessen | |
Konfrontationskurs in Sachen Stuttgart 21 verschafft seinem grünen | |
Amtsnachfolger Winfried Kretschmann nun die Gelegenheit für eine | |
nachholende Modernisierung konservativer Regierungsführung. | |
Auch beim Bürgerdialog der Kanzlerin geht es wie bei vielen anderen neuen | |
Formen der Bürgerbeteiligung nicht um eine wirkliche Erweiterung der | |
Partizipation. Vielmehr wird erprobt, wie sich diese einhegen, kanalisieren | |
und instrumentalisieren lässt. Das breite Bedürfnis nach mehr direkter | |
Demokratie wird auf Bahnen gelenkt, die manches veränderbar machen, die | |
grundsätzliche Verteilung von Macht und Eigentum aber nicht infrage | |
stellen. | |
Merkels „Dialog über Deutschlands Zukunft“ ist daher keine Antwort auf die | |
Krise unseres repräsentativen Systems, sondern selbst Ausdruck | |
postdemokratischer Tendenzen. Die wirkliche Lösung muss ganz woanders | |
gesucht werden: Die heute noch politisch halbierte Demokratie muss in die | |
Sphäre der Ökonomie hinein erweitert werden. Der Kampf für mehr | |
Bürgerbeteiligung darf vor den Toren der Banken und Konzerne nicht | |
haltmachen. | |
13 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Thomas Wagner | |
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