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# taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Brief aus Karatschi
> Die größte Stadt Pakistans ist wirtschaftlich heruntergekommen und wird
> von Gewalt beherrscht. Trotzdem gibt es in Karatschi sehr viel
> künstlerische Energie.
Bild: Es gibt auch gute Nachrichten aus Pakistan.
Es war eine sehr angenehme Überraschung, in Karatschi zu landen. Der warme
Wüstenwind war eine willkommene Abwechslung nach der Berliner Kälte. Und
entgegen dem in Deutschland verbreiteten Vorurteil traf ich am Flughafen
auf eine Menge selbstbewusster Frauen aller sozialen Schichten. Die meisten
trugen traditionelle Kleidung, manche eine leichte Kopfbedeckung, andere
gar keine, manche sogar eine schwarze Burka.
Ich musste mich anstellen, um meinen pakistanischen Pass abstempeln zu
lassen. Eine Frau, mit einem grünen Kopftuch über dem Haar und lachenden
Augen, sagte, die Schlange habe sich seit zehn Minuten nicht von der Stelle
bewegt, ich solle mich besser an einem anderen Schalter anstellen. In der
anderen Schlange winkte mich ein bärtiger Paschtune mit Pakul auf dem Kopf
zum Ärger der anderen Männer nach vorn: "Ladies first", sagte er, und
natürlich nahm ich sein Angebot gnädig an.
Ein junger Softwareingenieur, der gerade aus den USA nach Hause geflogen
war, half mir, mein Gepäck vom Band zu hieven. Wir hatten uns schon seit
dem Abflug von Doha über pakistanische Politik unterhalten und waren uns
einig, dass Karatschi schon seit den 1990er Jahren in der Klemme steckte
und wir andauernd dem westlichen Mythos entgegentreten müssten, die
Schwierigkeiten Pakistans mit der Sicherheit und allem Übrigen hätten mit
dem 11. September, dem Krieg in Afghanistan und den Taliban begonnen.
Zwar ist der Extremismus der letzten Jahre in Karatschi zu einem wachsenden
Problem geworden, aber von ethnischer und religiöser Gewalt wird die Stadt
schon seit zwei Jahrzehnten heimgesucht. Auch die Straßenkriminalität hat,
vor allem wegen der zunehmenden Armut, der Korruption und der ernsten
Mängel im Justizsystem, unglaubliche Ausmaße angenommen.
## Konflikt zwischen Paschtunen und Muhadschir
Karatschi liegt im südlichen Zipfel Pakistans, unweit der Küste zum
Arabischen Meer und hat nur wenig Verbindung zu dem zur afghanischen Grenze
hin gelegenen Norden. Das stimmt allerdings nicht mehr ganz, denn
mittlerweile haben sich viele Paschtunen von dort in der vergleichsweise
wohlhabenden Finanzkapitale angesiedelt, hinzu kommen afghanische
Flüchtlinge, aber auch Pakistaner, die durch den Drohnenkrieg aus ihrer
Heimat vertrieben wurden. Wenn man durch die Kleiderbasare geht, hat man
den Eindruck, dass der Tuchhandel von Karatschi fest in paschtunischer Hand
ist.
Vor ein paar Tagen, beim Handeln und Feilschen, fragte ich einen
paschtunischen Ladenbesitzer mit auffallend grünen Augen, woher er komme.
"Ghazni", antwortete er. "Wissen Sie, wo das ist?" "Aber ja doch",
erwiderte ich, "in Afghanistan." Mir war aufgefallen, dass sein
paschtunischer Akzent anders war als der in Nord- und Nordwestpakistan. Ich
fragte ihn, ob er von Haus aus Paschto spreche oder Dari, eine iranische
Sprache, die auch in Teilen Afghanistans verbreitet ist. "Beides",
antwortete er, "aber Dari kann ich besser." Die Unterhaltung erwies sich
als wirkungsvoller als jedes Feilschen. "Zahlen Sie mir, was Sie wollen",
sagte er, und ich gab ihm etwas mehr als den üblichen Preis.
Muhadschir - so nennt man die 1947 aus dem heutigen Indien in das heutige
Pakistan geflohenen "Immigranten". Sie bilden die Mehrheit der Bevölkerung
von Karatschi und kontrollieren die Lokalpolitik. Zwischen ihnen und den
anderen pakistanischen Ethnien, die sich in der Stadt niedergelassen haben,
bestehen seit Langem Spannungen, die sich durch die Zuwanderung der
Flüchtlinge im Laufe der letzten Jahre weiter verschärft haben. Der
Konflikt zwischen Paschtunen und Muhadschir ist der schwerwiegendste und
tiefste. Dazu kommen noch die Gewaltakte religiöser Fanatiker und Angriffe
rechtsextremer Gruppen auf die schiitische Minderheit.
## Dicht besiedelt
Doch trotz Kriminalität und Gewalt: Karatschi ist erstaunlich
widerstandsfähig. Die Energie und das Chaos in der Stadt sind
unvorstellbar, doch die Bewohner legen einen bewundernswerten Optimismus an
den Tag - und einen sarkastischen Humor, mit dem wir allem begegnen.
In diesem Winter kam ich für die Hochzeit einer Freundin nach Karatschi.
Als ich ankam, wurden gerade Demonstranten, die gegen die fortwährende
Benachteiligung der unterentwickelten Stadtteile protestierten und vor dem
Haus von Präsident Zardari ein Sit-in abhalten wollten, von der Polizei
brutal attackiert. Bei den Zusammenstößen starben mindestens sechs
Menschen.
Karatschi ist jedoch so groß und dicht besiedelt, dass die Bewohner am
einen Ende der Stadt Gewaltausbrüche am anderen Ende problemlos ignorieren
können. Mein Bruder merkte, dass irgendetwas in der Luft lag, als wir
losfuhren, um etwas zu besorgen. An der Tankstelle fragte er nach, was los
sei, aber auch der Tankwart hatte keine Ahnung. "Ist irgendwas
explodiert?", fragte mein Bruder scherzhaft. Der Tankwart grinste und
meinte, noch nicht. "Dann können wir ja weiterfahren", erwiderte mein
Bruder, und wir lachten.
Im Laufe des Tages sickerte durch, dass sich die Straßenschlachten unserem
Haus näherten. Einer nach dem anderen trafen alle Familienmitglieder ein.
Zuerst kam meine Mutter, sie hing am Handy, als sie ins Wohnzimmer trat und
ihre Handtasche und den Wagenschlüssel auf den Tisch warf. Meine Großmutter
saß am Tisch. "Hast du Yusuf, Abdullah und Ayub schon erreicht?",
erkundigte sie sich nach ihren Söhnen und ihrem Enkel. Meine praktische
Mutter hatte längst geklärt, dass sie sicher zu Hause oder wenigstens auf
dem Weg dorthin waren. Sie hatte unterwegs den Wagen meines Onkels erspäht,
der auf dem Heimweg war, und auch mein Vater war nur noch Minuten entfernt.
## Grüne Fahnen
"Was ist überhaupt passiert?", fragte ich. "Irgendwas halt, keine Ahnung",
erwiderte meine Mutter leicht ungehalten, "du weißt doch, wie es ist, bist
doch hier aufgewachsen." Ich bin tatsächlich in Karatschi aufgewachsen und
kenne sie nur zu gut, diese Strategie, keine großen Fragen zu stellen und
automatisch ins Haus zurückzukehren, während man gleichzeitig den Rest der
Familie sicher nach Hause zu lotsen versucht.
Jetzt gab es nur noch das Problem, irgendwie zur Hochzeit meiner Freundin
zu gelangen. Meine Mutter bat mich, eine halbe Stunde zu warten, bis man
abschätzen könne, ob ich das Haus gefahrlos verlassen könne. "Sollen wir
Papa fragen?", schlug ich vor. "Nein, solche Dinge brauchen wir doch nicht
mit ihm zu besprechen", sagte sie in verschwörerischem Tonfall.
Die Hochzeit wurde tatsächlich gefeiert, und am nächsten Tag war alles
wieder normal, zumindest so normal, wie es diese unberechenbare Stadt
erlaubt.
Erst wenige Wochen zuvor war in Karatschi der Geburtstag des Propheten
Mohammed gefeiert worden. Die ganze Stadt war mit Lichterketten geschmückt
und alle großen Gebäude waren am Vorabend des Fests hell erleuchtet. Am
Sonntagnachmittag fuhr ich durch die ziemlich leere Stadt, sah die Sonne
auf den ausgeschalteten Glühbirnen blitzen und Kinder, die sich auf den
Umzug am Abend vorbereiteten.
Überall sah ich die symbolisch grünen Fahnen und die blank polierten
Modelle des Heiligtums in Mekka, die bei der Parade getragen werden. So war
das in den weniger begüterten Vierteln. In den reicheren Vierteln waren
weniger Menschen auf den Straßen zu sehen. Dort werden Frauen und oft auch
Männer zur Feier ins Haus eingeladen, wo man gemeinsam singt und danach
festlich zu Abend isst.
## Zutiefst von Klassengegensätzen durchzogen
Die Reichen Karatschis leben eingeschlossen in Festungen, die von
bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht werden. Ich kann mich nicht
entsinnen, solche Sicherheitsvorkehrungen schon in meiner Kindheit gesehen
zu haben. Karatschi ist wie ganz Pakistan zutiefst von Klassengegensätzen
durchzogen. Die Namen der Viertel stehen für eine Klassenzugehörigkeit, die
nicht nur ökonomisch begründet ist, sondern auch durch soziokulturelle
Werte - und danach, wie lange eine Familie schon über Geld und Bildung
verfügt. Selbst ich, die ich hier aufgewachsen bin, vermag nicht die ganze
Komplexität dieser Zuordnungen zu durchschauen.
Doch gerade zeigte sich die Stadt wieder einmal von ihrer widerständigen
und kraftvollen Seite. Zum Literaturfestival am 11. und 12. Februar
strömten aus ganz Pakistan die Menschen herbei, um internationale Autoren
wie Vikram Seth, den indischen Autor von "Eine gute Partie", Hanif
Kureishi, den britisch-pakistanischen Autor von "Der Buddha aus der
Vorstadt", und den britischen Politikwissenschaftler Anatol Lieven zu
hören, ganz zu schweigen von pakistanischen Schriftstellern wie Mohsin
Hamid, der durch seinen Roman "Der Fundamentalist, der keiner sein wollte"
bekannt wurde, oder Mohammed Hanif, den Autor von "Eine Kiste
explodierender Mangos".
Die Energie und Lebendigkeit des Festivals war in der ganzen Stadt zu
spüren, und besonders angetan war ich von den vielen Autorinnen. Zu hören
waren Frauen wie Ayesha Siddiqua, Militärexpertin und Autorin der Buchs
"Military Inc", oder die ehemalige pakistanische Botschaftern in den USA,
Maliha Lodhi. Ja, das gesamte Festival wurde von einer Frau organisiert,
Ameena Saiyid, die jahrzehntelang den pakistanischen Zweig von Oxford
University Press geleitet hat. Zu den vielen gefeierten Frauen gehörte auch
die Dokumentarfilmerin Sharmeen Obaid Chinoy, die dieses Jahr für einen
Oscar nominiert wurde.
Hanif Kureishi sagte, er habe den weiten Weg von London zum
Literaturfestival nach Karatschi auf sich genommen, weil er davon
fasziniert sei, wie eine so gewalttätige und wirtschaftlich wie politisch
heruntergekommene Stadt so viel künstlerische Inspiration und Energie
hervorbringen könne. Und ich muss sagen, das trifft genau das, was auch ich
hier erlebe.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
18 Mar 2012
## AUTOREN
Hani Yousuf
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