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# taz.de -- Europa nach den Morden von Toulouse: Im Kampf der Kasten
> Der öffentlich gezeigte Hass auf das Andere gehört wieder zu Europa.
> Multikulturalismus und Assimilierung sind gescheitert. Eine Reflexion
> nach den Morden von Toulouse.
Bild: Die im Finstern sieht man anders.
Das Problem des Anderen – des Anderen an sich – steht ganz oben auf der
Tagesordnung Europa. Denn es vergeht ja kein Monat mehr ohne eine neue
Horrormeldung: Zu den Massakern von Toulouse, Norwegen, Florenz gehören die
Meldungen von diskriminierenden Gesetzen in einem und von Hassaufmärschen
in einem anderen Land des Kontinents.
Nicht dass in den letzten 70 Jahren das Problem des Anderen jemals ganz
verschwunden wäre. Sehr viele Europäer waren immer Antisemiten, dachten,
sprachen und handelten negrophob, antitürkisch oder antiarabisch – waren
eben gegen alles, was sie von ihrem eigenen Ich meinten abspalten zu können
oder zu müssen; aber es war doch ein Hass, der sich wesentlich im Privaten
ausleben musste, dort, wohin der gesellschaftliche Druck ihn verbannte.
Aber nun gilt das nicht mehr – man denke nur an die aktuelle
Appeasement-Politik gegenüber den Abscheulichkeiten in Ungarn.
Für diesen Wandel gibt es kein konkretes Datum, keine Wasserscheide wie
die, als die mittelalterlichen Europäer plötzlich eine neue Welt entdeckten
– Tzvetan Todorov hat das in seinem Buch „Die Eroberung Amerikas – Das
Problem des Anderen“ analysiert. Irgendwann zwischen den 1980er Jahren und
der Jahrtausendwende ist jedenfalls der öffentlich artikulierte Hass auf
den Anderen zu einer Art Grundrecht geworden.
## Selffullfilling Prophecy
Das, was den Anderen zum Outsider machte, war in den meisten Fällen nicht
mehr die Herkunft, das „Blut“, sondern die Kultur, der „Clash of
Civilizations“, wie dann auch der 1996 erschienene Bestseller von Samuel
Huntington hieß – klassischer Fall einer Selffulfilling Prophecy: Und ab
dem 11. September 2001 gab es kein Halten mehr.
Aber Vorsicht: Die Klage über die miesen Zeiten, in denen man selbst leben
muss, das ewig-nörglerische „O tempora, o mores“, ist eher dem eigenen
Alterungsprozess als den Zeitläuften geschuldet. „Der Untergang des
Abendlands“ – Spengler schrieb sein Buch 1918, zu einem Zeitpunkt also, da
der Westen seine beste Zeit noch vor sich hatte.
In amerikanischer Perspektive wirkte Europa immer kleingeistig, feindlich,
krämerisch, mit seinen alles Fremde abwehrenden Patrouillenbooten, seinen
stacheldrahtbewehrten Abschiebelagern. Zu denken gibt auch der Wandel des
Ansehens der nordischen Sozialdemokratie, die einst die skandinavischen
Länder zu einer Art Paradies auf Erden gemacht zu haben schien.
Heute dominiert dort in der öffentlichen Wahrnehmung die dunkle Seite à la
Stieg Larsson. Und was ist aus den Niederlanden geworden, aus der
weltbürgerlichen Fahrradstadt Amsterdam? Weiter im Süden hat sich der
Mythos vom „guten Italiener“ längst erledigt. Man rühmte sich der eigenen
Toleranz, solange keine Fremden im Land waren. Dann begann man umstandslos
sie zu lynchen, obwohl man doch selber Immigrant gewesen war, erniedrigt
und beschimpft als „Spaghetti“ und „Katzlmacher“. Bemerkenswert ist sie
schon, die Gabe der Völker, zu vergessen. Die Geschichte lehrt buchstäblich
nichts.
## Paris liegt in Marokko
Nüchtern gesprochen ist es wohl einfach so, dass die beiden in den letzten
Jahrzehnten einflussreichsten Modelle für die Beziehung zum Anderen
gescheitert sind: Der angelsächsische Multikulturalismus, den
Nobelpreisträger Amartya Sen schlicht „Multi-Heuchelei“ nannte, die nur der
Besitzstandwahrung diene. Das andere Modell war die französische
monokulturelle Assimilierungsidee, die eine Zeit lang nicht unerfolgreich
schien – man denke nur an den französischen Chanson, der fast durchweg von
Immigranten geprägt ist (Ferré und Yves Montand – Italiener, Georges
Moustaki – Grieche, Charles Aznavour – Armenier).
Beide Modelle haben die Migranten aber ökonomisch nicht vorangebracht, ein
sozialer Aufstieg fand kaum statt, in den Städten herrscht die soziale
Apartheid. Hinter dem vieldiskutierten Kopftuch oder Hidschab ist immer
noch vor allem ein leeres Portemonnaie.
Die neuen Kommunikationstechniken machen die Sache paradoxerweise nicht
einfacher. Denn während sie den Entfernten heranholen, entfernen sie den
Anwesenden. Wenn früher ein Marokkaner nach Paris auswanderte, dann hörte
er französisches Radio, ging ins französische Kino, konnte sich einen
Besuch in der alten Heimat selten leisten. Heute fliegt er low-cost jedes
Jahr nach Hause, sieht über Satellit marokkanisches TV, jubelt für die
Mannschaft von Casablanca und isst mit seiner Familie am Atlantik via Skype
zu Abend. Er kann in Paris leben, ohne Marokko je zu verlassen.
Im Immigrationsland sind es vor allem die verarmten Einheimischen, die mit
diesen Migranten in Konkurrenz stehen: Um das Krankenhausbett, den Platz in
einer „guten“ Schule, die günstige Wohnung. Es ist eben die Unterschicht,
in der die rechtsradikalen Parteien ihre größten Erfolge feiern, in den
ehemaligen Arbeiterbezirken, während die sogenannte Linke ihrem kostenlosen
Antirassismus und Gutmenschentum in Vierteln wie Prati (Rom), Islington
(London), Marais (Paris) oder Prenzlauer Berg frönt.
Das alles ist dabei nicht ein Ergebnis der Krise von 2008 ff. Vorzeichen
waren das französische und niederländische Nein zur europäischen
Verfassung, die Krawalle in den Banlieues, der Aufstieg der
Anti-Islam-Parteien. All dies Ausfluss einer neuen europäischen
Kastengesellschaft, über die man sich in Indien im Urlaub so schön aufregen
kann. Kaste = ökonomische Diskriminierung + Hautfarbe. Diese Farbe
unterscheidet sich dabei von Land zu Land: Für die Marokkaner ist es in
Holland schlimmer als für die Niederländisch sprechenden Einwanderer aus
Surinam, in Italien ergeht es Senegalesen besser als Albanern. Der
Klassenkampf ist vorbei. Willkommen im Kastenkampf.
Übersetzung: Ambros Waibel
29 Mar 2012
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