# taz.de -- Portugal: Ein Sorgenkind mit viel Kultur | |
> Das mittelalterliche Guimarães ist europäische Kulturhauptstadt 2012 und | |
> das Herzstück der Nation. Die Kulturinvestitionen sollen auch zur | |
> sozialen Genesung der Kleinstadt beitragen. | |
Bild: Das mittelalterliche Guimarães. | |
"Aqui nasceu Portugal“ – „Hier wurde Portugal geboren“, erinnert ein we… | |
Schriftzug entlang der alten Stadtmauer von Guimarães an die historische | |
Geburtsstätte des Landes. João Manuel zeigt mit dem Finger auf die großen | |
Buchstaben und lächelt. „Dahinter liegt die Wiege der Nation“, sagt der | |
69-Jährige, leicht ergraute Portugiese. Zumindest will es so die | |
geschichtliche Überlieferung. Als gebürtiger Vimaranense, wie die Einwohner | |
von Guimarães genannt werden, ist João Manuel stolz darauf, aus der ersten | |
Königsstadt Portugals zu kommen. | |
Als Teil von „Eu sou Guimarães“ („Ich bin Guimarães“) hat João Manue… | |
Besucher in „seiner“ Stadt willkommen zu heißen gelernt. Seit einigen | |
Monaten finden regelmäßige Versammlungen statt, bei denen die Organisatoren | |
von Guimarães 2012 versuchen, die Bewohner in das Kulturjahr zu | |
involvieren. Vorwiegend werden dabei im Tourismus arbeitende Personen | |
angesprochen, aber auch andere Interessierte sind willkommen. João Manuel | |
führt seitdem Touristen unentgeltlich durch die Stadt, erklärt die | |
Geschichte, bietet Hintergrundinformationen. | |
Anfang des 8. Jahrhunderts war die iberische Halbinsel beinahe vollständig | |
unter maurischer Herrschaft. Der (vermutlich) in Guimarães geborene Alfons, | |
Graf von Portucale, eroberte 1139/40 große Teile des heutigen | |
portugiesischen Staatsgebietes von den Mauren zurück. Nach der Befreiung | |
ernannte sich der junge Graf selbst zum König Alfons I. und Guimarães zur | |
ersten Hauptstadt seines neuen Reiches. Seitdem wird die Stadt im Distrikt | |
Braga mit nationaler Identität assoziiert. Rund 900 Jahre später hat | |
Guimarães wieder einen Grund zum Feiern. Neben dem slowenischen Maribor | |
darf sich die junge Universitätsstadt „Kulturhauptstadt Europas“ nennen. | |
Hinter der Stadtmauer zeigt sich Guimarães wie eine mittelalterlich | |
anmutende Filmkulisse: Über enge Gässchen spannen sich kunstvolle | |
Steinbögen. Schattige Kreuzgänge verstecken sich hinter unscheinbaren | |
zierlichen Holztüren. Alte Herrenhäuser mit verzierten Kachelfassaden | |
umrunden mit Pflasterstein ausgelegte Plätze. Bewohner unterhalten sich | |
durch holzgeschnitzte Balkonfenster mit ihren Nachbarn oder rauchen draußen | |
auf dem Balkon genüsslich Zigaretten. Dabei beobachten sie gelangweilt das | |
rege Treiben auf den Straßen, in denen Verkäufer vor ihren Läden | |
Textilerzeugnisse und Schuhe anbieten. Zwei Tauben turteln auf einem der | |
vielen Mansardendächer zu portugiesischer Fado-Musik. In den Gärten der | |
Restaurants servieren die verschlafenen Kellner Portwein, Bohneneintopf und | |
Bacalhau – traditionellen Stockfisch, für den es in Portugal 1.001 | |
verschiedene Rezepte geben soll. Bisher frequentieren hauptsächlich | |
portugiesische Touristen die verlockend aussehenden Gartenlokale. Aber man | |
wartet auf ausländische Touristen | |
## Geschöntes Mittelalter und Moderne | |
„Sieh nur!“, sagt João Manuel und zeigt auf eine offene Balkontür im erst… | |
Stock. Zwischen gusseisernen Gitterstangen und dicken Blumentöpfen lächelt | |
ein Abbild der Mona Lisa von der Wand herunter. João Manuel lächelt zurück. | |
Er hat den Charme der verträumten Kleinstadt längst erkannt. Seit den | |
1980er Jahren arbeitet die Gemeinde eisern an der Restaurierung des | |
historischen Zentrums – allen voran Fernando Távora und Alexandra Gesta, | |
zwei Architekten im Dienste der Stadtverwaltung. Guimarães erhielt etliche | |
nationale und europäische Preise für die exemplarische Entwicklung der | |
nordportugiesischen Architektur. Im Jahr 2001 würdigte auch die Unesco | |
diese Errungenschaft und ernannte Guimarães zum Weltkulturerbe. | |
Heute beobachten ein paar installierte Überwachungskameras die Bewohner | |
Schritt auf Tritt. Als erste portugiesische Stadt beantragte Guimarães 1990 | |
die Genehmigung für eine Videoüberwachung, um seine steinerne Innenstadt | |
vor Vandalen und Randalierern zu beschützen. | |
Üppige grüne Hügel des Granitbergs Serra da Penha umgeben den Stadtkern von | |
Guimarães. Der Duft von Kamillenbäumen strömt durch die Luft. Eine Seilbahn | |
führt zur Kirche Nossa Senhora am höchsten Punkt des Berges Penha. Über in | |
Stein geschlagene Terrassen und endlose Weingärten in allen Grüntönen führt | |
der Weg durchs Hinterland nach Porto, das keine fünfzig Kilometer entfernt | |
liegt. Auch wenn Portugal schon lange als ein Sorgenkind Europas gilt, ist | |
das Land reich an Kultur. Nach Lissabon 1994 und Porto 2001 ist Guimarães | |
bereits die dritte portugiesische Stadt. die zur europäischen | |
Kulturhauptstadt ernannt wurde. „Das war nur eine Frage der Zeit“, sagt | |
João Manuel. „Schon vor dem Projekt Europäische Kulturhauptstadt galt | |
Guimarães als Zentrum der portugiesischen Kultur.“ Der pensionierte | |
Handwerker glättet seinen perfekt gestutzten, buschigen Schnauzer. | |
Guimarães ist eine Kleinstadt mit rund 60.000 Einwohnern – viele davon | |
arbeitslos. Da jeder zweite Bewohner unter dreißig Jahre alt ist, zählt die | |
Gemeinde zu den jüngsten Europas. Diese historisch bedeutende Stadt der | |
Welt schmackhaft zu machen, ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance | |
für Bewohner wie João Manuel. „Während unsere Stadt vor sich hinschlummert | |
und darauf wartet, entdeckt zu werden, fahren Touristen lieber nach Porto“, | |
sagt der Vimaranense. „Hierher verirrt sich fast niemand.“ Das soll sich | |
nun ändern. „Unser Stadtrat rechnet im Jahr 2012 mit eineinhalb Millionen | |
Besuchern“, fügt der Pensionist hinzu. | |
Für diese Fantasiezahl hat der Stadtrat tief in die Taschen gegriffen und | |
dem bereits von Inflation geschädigten Portugal damit keine Freude | |
bereitet. 25 Millionen Euro – im europäischen Vergleich mit anderen | |
Kulturhauptstädten ein durchaus mittelmäßiges Budget – wurden in 500 | |
„kulturelle Aktivitäten“ investiert. Darüber sind nicht alle Portugiesen | |
erfreut. „Zumindest haben wir dann wieder etwas, womit unsere Musiker ihre | |
Saudade füttern können“, meint João Manuel skeptisch. Er lächelt | |
verschmitzt „Ja, wir bleiben ein Sorgenkind Europas, aber wir haben | |
Kultur.“ | |
## Wenig Bildung, viele Arbeitslose | |
Über die hohen Staatsschulden, das niedrige Bildungsniveau und eine | |
Arbeitslosigkeit von rund 13 Prozent will der Portugiese nicht näher | |
nachdenken. Guimarães bezieht rund 70 Prozent seiner Einkünfte aus der | |
Textilherstellung. Die Organisatoren von Guimarães 2012 sehen die | |
„zukunftsorientierten Kulturinvestitionen“ als Möglichkeit, der Stadt und | |
dem Land eine Chance auf „finanzielle und soziale Genesung“ zu geben. Die | |
breite Palette des kulturellen Angebots für 2012 reicht von Musik, | |
Architektur und Kino bis hin zu Ausstellungen, Konferenzen und Workshops | |
inner- und außerhalb Guimarães. 750 Freiwillige unterstützen die | |
Aktivitäten, neben 5.000 portugiesischen sollen auch 1.000 internationale | |
Künstler an dem Jahresevent teilnehmen. Die Besucher erwartet ein | |
vielfältiges Programm. „Mit prominenter Besetzung“, fügt João Manuel hin… | |
So werden beispielsweise der englische Theaterregisseur Peter Brook, der | |
portugiesische Stararchitekt Álvaro Siza Vieira oder der französische | |
Filmemacher Jean-Luc Godard nach Guimarães kommen. Auch der peruanische | |
Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa hat sich für 2012 angekündigt | |
– einer der Höhepunkte des Kulturjahres. Daneben gibt es die alljährlichen | |
Theateraufführungen, Lyriklesungen, Raum- und Lichtinstallationen. | |
Guimarães versteht sich als kreativer Umschlagplatz, als „Stadt der Ideen“. | |
Infolgedessen entstanden für das Kulturjahr die vier Themenfelder „Denken“, | |
„Stadt“, „Community“ und „Künste“. Auf das Schlagwort „Networkin… | |
die Organisatoren wohl verzichtet, wenngleich es an oberster Stelle ihrer | |
Planung zu finden ist. | |
Im Konzept von Guimarães 2012 stehen nicht allein die Festivitäten, sondern | |
die Menschen im Vordergrund. So wird es den Besuchern möglich sein, mit den | |
verschiedenen Künstlern persönlich zu interagieren. Um den Marktplatz herum | |
sollen die Kreativen in Künstlerresidenzen „angesiedelt“ werden, die spät… | |
die Kenntnisse, Erfahrungen weiterentwickeln sollen. Wenn das Kulturjahr | |
2012 vorbei ist und Guimarães den Titel an Marseille und Kovice weitergibt, | |
hofft die Kleinstadt auf eine verbesserte Infrastruktur für Arbeit und | |
Leben. | |
João Manuel steigt die hohen Stufen der mittelalterlichen Burgmauer empor. | |
Geländer, an dem er sich festhalten könnte, gibt es keines. Dafür warnt ein | |
Schild vor der Rutschgefahr. „Das müssen wir noch auf die Reihe kriegen, | |
bevor es losgeht“, sagt der Pensionist, „sonst fällt uns da noch irgendwann | |
einmal jemand hinunter.“ | |
Oben angekommen, stützt sich João Manuel auf die mannshohen Zinnen und | |
blickt zwischen acht massiven Wehrtürmen verträumt auf „seine“ Stadt. Die | |
romanische Burg Castelo de Vimaranes stammt aus dem 10. Jahrhundert und | |
gilt als Wahrzeichen der Stadt. Ihr verdanken die Bewohner von Guimarães | |
auch den Namen Vimaranense. Nachdem Diktator António Salazar 1932 Portugals | |
Regierung übernahm, ließ er die Festungsanlage komplett erneuern. Nur die | |
Geländer hatte er wohl vergessen. | |
## Blumenschlacht und Stierkampf | |
Heute zählt das Castelo zu den besterhaltenen romanischen Burgen Portugals | |
und Guimarães gilt als Wallfahrtsort für Portugiesen. Eine Gedenktafel | |
zeigt Alfons I., wie er symbolisch als Zeichen des Unabhängigkeitssieges | |
einen Lorbeerkranz in die Höhe hält. Eine lebensgroße Statue des | |
Nationalhelden bewacht die Burg. Wenig verwunderlich hat sich aus dem Helm | |
des Nationalhelden auch das herzförmige Logo des Kulturjahres entwickelt. | |
Zum Abschied gibt João Manuel noch einen Tipp. Seit über hundert Jahren | |
findet am ersten Augustwochenende in Guimarães das Gualterianas statt. „In | |
diesem Jahr (5. bis 8. August 2012) wird dieses Volksfest etwas | |
Einzigartiges“, sagt der Pensionist. „Mit Feuerwerk, Blumenschlacht, | |
Stierkampf, Umzug, Live-Musik und portugiesischen Köstlichkeiten.“ | |
31 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Martin Zinggl | |
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