# taz.de -- Das „gute Leben“ in Südamerika: Jenseits der „Entwicklung“ | |
> In den Staaten in den Anden wird schon länger über das „gute Leben“ | |
> diskutiert. Hier wird diese Debatte allerdings häufig missverstanden. | |
Bild: Im „Buen Vivir“ in Südamerika geht es um soziales Leben und ein neue… | |
PORTO ALEGRE taz | „Buen Vivir“, Gutes Leben: Das Leitkonzept der | |
Verfassung Ecuadors von 2008 zieht sich schon längst durch die Debatten der | |
GlobalisierungskritikerInnen in Nord und Süd. Auch in Boliviens neuem | |
Grundgesetz ist vom „Vivir Bien“, also vom gut leben, die Rede, | |
ursprünglich stammt der Begriff aus den Indígena-Sprachen Kichwa und | |
Aymara. | |
Handelt es sich bei dem Interesse in Europa nur um die letzte romantische | |
Projektion einer ratlosen Linken, die schon öfter hoffnungsvoll nach | |
Lateinamerika geblickt hat, nur um sich allzuoft enttäuscht wieder | |
abzuwenden? Oder könnte das Buen Vivir die entwicklungskritischen Diskurse | |
auch in Deutschland befruchten? | |
Karin Gabbert hat bei der Rezeption in akademischen und politischen Kreisen | |
gleich mehrere Missverständnisse beobachtet: „Entweder wird das Buen Vivir | |
als rückwärtsgewandtes Konzept abgetan. Da heißt es schnell, | |
Subsistenzwirtschaft in indigenen Gemeinschaften sei eben kein brauchbares | |
Wirtschafts- oder Lebensmodell für eine Stadt wie Berlin“, sagt die | |
Leiterin des Lateinamerikareferats der Rosa-Luxemburg-Stiftung. „Oder man | |
insistiert auf der Frage nach ableitbaren, ganz konkreten Antworten | |
beispielsweise für eine ökologische Wende - nur um ebenfalls enttäuscht zu | |
werden“. | |
Auch die Glücksdebatte, die in Europa gerade so in Mode sei, habe wenig mit | |
Buen Vivir zu tun, meint Gabbert: „Es geht ja nicht um individuell gutes | |
Leben, sondern um soziales Leben und ein neues Verhältnis zur Natur“. So | |
sehen es auch die lateinamerikanischen AktivistInnen, die sich schon 2009 | |
auf dem Weltsozialforum im brasilianischen Belém oder ein Jahr später beim | |
alternativen Klimagipfel in Bolivien positiv auf das Konzept bezogen. | |
## Linker Fortschrittsglaube | |
Seither haben sich gerade in dort und in Ecuador die zunächst | |
unterschwelligen Differenzen zwischen linken Regierungen und ökosozialen | |
Kritikern zu einem heftigen Dauerstreit ausgewachsen, denn die Anhänger des | |
Buen Vivir lassen sich weniger leicht von der Macht umgarnen als etwa viele | |
Gewerkschafter. Evo Morales und Rafael Correa setzen weiterhin auf | |
umweltfeindliche Bergbauprojekte, Schnellstraßen durch oder die Ölförderung | |
in Naturschutzgebieten und sind dabei ganz dem linken Fortschrittsglauben | |
des 20. Jahrhunderts verpflichtet. | |
Allerdings sind für ihre kleinen Länder die Spielräume in der | |
Weltwirtschaft besonders gering. Ganz zu schweigen vom Einfluss des konsum- | |
und wachstumsfixierten großen Nachbarn Brasilien, dessen Multis keinen Deut | |
besser sind als jene aus den USA oder Europa. | |
„Diese Art des Wachstums ist nie für alle Menschen gut“, meint der | |
spanische Soziologe José María Tortosain Bezug auf die Millionen | |
südamerikanischer Opfer der Megaprojekte. Er wie der auch Uruguayer Eduardo | |
Gudynas, der den dortigen progressiven Regierungen allesamt | |
exportorientierten, „plündernden Extraktivimus“ vorwirft, setzt als | |
[1][Gegenentwurf] auf das Buen Vivir. Als systemkritische Antwort stelle es | |
das westliche Entwicklungsdenken grundlegend in Frage, sagt Gudynas, | |
„besonders seine zentrale Ausrichtung auf wirtschaftliches Wachstum“. | |
Mit dieser antikolonialen Stoßrichtung gilt es sich in Europa besonders | |
auseinanderzusetzen. „Der grüne Kapitalismus greift viel zu kurz“, sagt | |
Alberto Acosta, der als Vorsitzender des Verfassungskonvents in Ecuador die | |
Rechte der Natur in der Magna Charta verankern half. Er propagiert | |
stattdessen eine „solidarische Wirtschaft“ zwischen der Diktatur des | |
Marktes und einer übertriebenen Staatsfixiertheit. Acosta ist der | |
prominenteste Reisende in Sachen Buen Vivir, von Mai bis Juli tritt er | |
mehrfach in Deutschland und Österreich auf. | |
Im neoliberal dominierten Europa erscheint ein „soziobiozentrisches“, | |
postkapitalistisches System, wie es Acosta propagiert, noch utopischer als | |
in Südamerika. Aber auch für reformistisch ausgerichtete Grüne hätte das | |
Buen Vivir etwas zu bieten, [2][findet Thomas Fatheuer] von der | |
Heinrich-Böll-Stiftung.Für ihn ist der Ansatz aus den Anden „eine | |
Ermutigung, auch bei uns radikaler die Tradition von Modernisierung durch | |
zunehmende Naturbeherrschung zu hinterfragen“. | |
14 Apr 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Analysen/Reihe-Analyse_bue… | |
[2] http://www.boell.de/downloads/Endf_Buen_Vivir.pdf | |
## AUTOREN | |
Gerhard Dilger | |
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