# taz.de -- Bewegungen: Protest darf mit den erreichten Zielen nicht enden | |
> Sowohl der Blick in die Hauptstadt als auch nach Stuttgart lehrt: | |
> Bürgerbeteiligung gehört auf Stand-By. | |
Bild: Der Schauspieler Walter Sittler. | |
Wer etwas über Erfolg und Misserfolg von Protestbewegungen lernen will, für | |
den lohnt ein Blick in die Widerstandshochburgen der Republik: Berlin und | |
Stuttgart. Selten zuvor gab es dort mehr Aufruhr als jetzt, aber der | |
Ausgang könnte unterschiedlicher – und lehrreicher – kaum sein. | |
## Protest: eben noch laut, schnell erlahmt | |
Die Berliner haben mit ihrem Protest Fakten schaffen können: Der | |
Wassertisch hat die Offenlegung der Zahlen erreicht; das Guggenheim Lab | |
geht nicht nach Kreuzberg; die Flugrouten des neuen Flughafens Berlin | |
Brandenburg führen nicht über den Südwesten Berlins, zum Leidwesen der | |
Menschen im Südosten; das Spreeufer wird nicht gänzlich zugebaut. Ziel | |
erreicht – und der eben noch so laut vorgetragene Protest erlahmt, oder | |
verschwindet. | |
In Stuttgart sprechen die geschaffenen Fakten eine andere Sprache: Der | |
Nordflügel des ehemals denkmalgeschützten Bahnhofs ist abgerissen, kein | |
Baum, kein Strauch mehr zu sehen; der 200 Meter lange Südflügel ist fast | |
verschwunden; der mittlere Schlossgarten in eine Wüste verwandelt. Ziel | |
verfehlt, doch der Protest geht weiter. Denn was wie eine totale Niederlage | |
aussieht, entpuppt sich als langfristiger Erfolg: Nach einem unerwarteten | |
Wahlausgang singen viele Politiker plötzlich das Hohelied der | |
Bürgerbeteiligung und wollen sie gar in der Verfassung verankern. Es gibt | |
kaum eine politische Debatte, in der Stuttgart 21 nicht als Mahnmal | |
verfehlter Politik erwähnt wird. In Baden-Württemberg wird gar eine | |
Staatsrätin für Bürgerbeteiligung ernannt. Wie diese Beteiligung allerdings | |
aussehen soll, lassen die Verantwortlichen gern im Dunkeln. | |
Dabei liegen die Rezepte für eine starke Bürgerbeteiligung auf der Hand. | |
Das Kunststück besteht jetzt darin, die Stuttgarter Ausdauer mit der | |
Berliner Durchsetzungskraft zu verbinden. Protest auf Stand-by. | |
Eine Gebrauchsanleitung: | |
1. Das große Thema: Atomausstieg, Fluglärm, unsinnige Verkehrspolitik, | |
Gentechnik – da müsste was dabei sein. Nicht in Details verstricken, | |
sondern die wichtigen Fragen stellen. | |
2. Die offene Tür: Unabhängig von politischer Couleur, egal ob ArbeiterIn, | |
MigrantIn, Arzt oder Ärztin, Arbeitslose(r), PfarrerIn, jeder kann | |
beitragen. | |
3. Die Weisheit der vielen: So viele Informationen wie möglich über das | |
Thema sammeln und auf Demonstrationen, auf Flugblättern und über die Medien | |
verbreiten. | |
4. Die Macht der Medien: Ohne die geht es nicht, und wenn die etablierten | |
Zeitungen und Sender nicht unabhängig berichten, muss man selber welche | |
schaffen. In Stuttgart sind das die Zeitungen einund20 und kontext sowie | |
der Stream flügeltv. | |
5. Der gute Draht: PolitikerInnen der Stadt, der Region oder des Landes | |
ansprechen, die es mit einer wirklichen Bürgerbeteiligung ernst meinen. | |
6. Das juristische Standbein: Rechtsbeistand organisieren, weil Konflikte | |
mit staatlichen Institutionen fast zwangsläufig sind. | |
7. Der richtige Gegner: Immer gegen falsche Entscheidungen kämpfen, nicht | |
gegen Personen. | |
8. Der richtige Ton: Ehrlich und klar sprechen, Floskeln und Worthülsen | |
meiden – und die Gegenseite verstehen. | |
9. Kohle, Penunzen, Knete: Bürgerbeteiligung kostet Geld. Man muss spenden | |
einsammeln und einen Verein haben, der diese verwaltet. Wenn es keinen | |
Verein oder Ähnliches gibt – selber gründen. | |
Die das beherzigen, sind weit mehr als „Wutbürger“ oder „arbeitslose | |
Berufsdemonstranten“, sondern längst Teil einer neuen Bürgergesellschaft. | |
Einer Gesellschaft, in der die Belange der Menschen wieder im Zentrum | |
stehen und nicht Partei- oder Lobbyinteressen. Lust auf Verantwortung und | |
Einsatz, darum geht es. Und die gibt es überall, nicht nur in Stuttgart und | |
Berlin. | |
Walter Sittler, 59, Schauspieler aus Stuttgart, taz-Genosse seit 2003. | |
13 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Walter Sittler | |
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