| # taz.de -- Inklusion: Lernen mit Herz und Hand | |
| > Schüler aus Tempelhof, behindert und nichtbehindert, richten ein | |
| > Kriegsdenkmal an der deutsch-polnischen Grenze her | |
| Bild: Gewinn für die Gesellschaft: Junge in einer Behindertenwerkstatt | |
| „Vorsicht, Baum fällt“, schreit Mustafa. Kreischen. Debbie schaut mit | |
| erwartungsvollen Augen auf die umstürzende Birke: geschafft! Wieder ein | |
| Stück mehr Platz auf dem verwilderten Gelände des ehemaligen | |
| Kriegsgefangenenlagers. Währenddessen knien Ozas und Tanja auf dem Boden | |
| und säubern die zugewachsenen Fundamente der ehemaligen Theaterbaracke. | |
| Mustafa, Debbie, Ozas und Tanja sind Neuntklässler der 7. Integrierten | |
| Sekundarschule (ISS) aus Tempelhof – und im Juni 2011 vier der 15 | |
| Teilnehmer eines Workcamps ganz in der Nähe der deutsch-polnischen | |
| Doppelstadt Zgorzelec-Görlitz. Eine Woche lang suchten die Schüler, fast | |
| alle mit Migrationshintergrund, mit Begleitern, drei Kollegen und mir nach | |
| Spuren der Vergangenheit: auf dem Gelände des ehemaligen deutschen | |
| Kriegsgefangenenlagers StaLaG VIIIa, in dem von 1939 bis 1945 12.000 | |
| sowjetische, französische, polnische, englische und US-amerikanische | |
| Gefangene interniert waren. Das Projekt ist mehr als eine Geschichtsstunde. | |
| Denn mit Mustafa, Debbie, Max und Driton arbeiten auch vier behinderte | |
| SchülerInnen mit. | |
| Äußerst akribisch säubern die Schüler die Wege zum Friedhof des Lagers. | |
| Keine leichte Aufgabe, das Gelände ist mit Gestrüpp und Bäumen überwuchert, | |
| die SchülerInnen sind dazwischen kaum auszumachen. „Das alles ist sehr | |
| schwierig mit einfachsten Geräten und viel Handarbeit“, erzählt Driton. | |
| „Aber eigentlich kein Problem. Unsere Gruppe ist gut drauf und hat viel zu | |
| erzählen.“ Andere Schüler räumen einen Platz frei, an dem in wenigen Tagen, | |
| am Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion, ein Gedenkkonzert | |
| stattfinden soll. Auch das hat einen Bezug zum Lager, der Komponist Olivier | |
| Messiaen (1908–1992) war hier interniert und schrieb ein Stück mit | |
| bezeichnendem Titel: „Quartett auf das Ende der Zeit“. | |
| Debbie, eine Schülerin mit geistiger Behinderung, macht derweil Mittag. Es | |
| gibt noch keine Toilette und Waschmöglichkeiten auf dem Gelände, also macht | |
| die Gruppe die Mittagspause in ihrer Unterkunft, einer alten Villa, die als | |
| Jugendherberge genutzt wird. Das Essen haben Debbie und ein Begleiter schon | |
| vorbereitet. Auch „um allen Beteiligten, Behinderten wie Nichtbehinderten, | |
| zu zeigen, dass wir alle auf die Fähigkeiten jedes einzelnen angewiesen | |
| sind“, sagt Schulleiterin Hannelore Weimar. | |
| Ziel dieses „inklusiven Workcamps“ der 7. ISS ist es, die bisher im | |
| Schulsystem dominierende homogene Klassenstruktur aufzubrechen, in die bis | |
| dato Menschen mit besonderen Bedürfnissen integriert werden. „Sosehr wir | |
| uns bemüht haben, zu integrieren – mit bester Absicht –, der Stempel lässt | |
| sich nicht einfach ausradieren“, sagt Weimar. „Wir sind überzeugt, dass | |
| Vielfalt eine Bereicherung ist und jeder Mensch, ob behindert oder nicht, | |
| seine Stärken und Schwächen hat. Wenn wir diese Erkenntnis negieren und | |
| weiter SchülerInnen in scheinbar homogenen Gruppen nivellieren, dann gehen | |
| uns viele kostbare menschliche Ressourcen verloren.“ | |
| Ich frage die Schüler, warum gerade hier in Görlitz-Zgorzelec das Workcamp | |
| stattfindet. Ozas wirft einen Blick zu Debbie und meint nachdenklich: „Hier | |
| können wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen, aber auch mit dem Heute. | |
| Krieg und Flucht ist ja auch bei uns in der Schule ein Thema, viele Schüler | |
| von uns haben ja Kriegserfahrungen. Und irgendwie bekommt man auch Mut.“ | |
| Der Görlitzer Albrecht Goetze, der 2006 mit seinem Verein „Meetingpoint“ | |
| die Idee zu dem Projekt auf dem früheren Gefangenenlager hatte, hört | |
| aufmerksam zu: „Das ist Lernen mit Herz und Hand.“ | |
| Dann geht es wieder zur Arbeit – ganz schön schweißtreibend in dem feuchten | |
| Gelände. Tanja bemerkt, dass Debbie arg unter den Mücken leidet. „Hier, ich | |
| habe etwas für dich“, sagt sie und reicht ihr die Mückencreme. Als sie | |
| merkt, dass Debbie damit nicht zurechtkommt, greift sie sich beherzt ihre | |
| Mitschülerin und cremt sie ein. Um 16.30 Uhr ist Feierabend. Jetzt noch | |
| duschen, dann ist Freizeit angesagt. Obwohl sie in Achtbettzimmern | |
| schlafen, kehrt am späten Abend Ruhe ein, der nächste Arbeitstag steht | |
| schließlich bevor. | |
| „Die Knackpunkte der inklusiven Pädagogik unterscheiden sich gar nicht so | |
| sehr vom herkömmlichen Schulalltag“, betont Begleiterin Regina Hausdörfer. | |
| „Aber wir wollen uns mit den Schülern gemeinsam auf den Weg machen und | |
| Lösungen suchen. Zwei Schritte vor und einen zurück – wenn wir das in | |
| unserer Arbeit akzeptieren, befinden wir uns auf einem guten Weg.“ | |
| Am Ende der Woche ist es so weit: Der Platz vor der Theaterbaracke ist | |
| fertig, das Gedenkkonzert kann beginnen. Nun ertönt die Musik Messiaens. | |
| „Wie kann ein Mensch hier in der Kriegsgefangenschaft nur Musik | |
| schreiben?“, hatte Fabian zuvor gefragt. „Was muss das für Musik sein?“ … | |
| Komposition verlangt viel Aufmerksamkeit von den Schülern, die Musik klingt | |
| sehr atonal. Für die Neuntklässler vermittelt sie ein Gefühl der Bedrohung, | |
| die in dem Lager geherrscht haben muss. Einige Schüler mit Förderbedarf | |
| brauchen eine Auszeit. Mustafa steht leise auf, versucht keinen zu stören | |
| und geht kurz in den Wald. „In der Schule hätte es jetzt Chaos und | |
| Durcheinander gegeben“, sagt Hausdörfer. „So zu reagieren, ist ein | |
| Lernprozess.“ | |
| Am Ende sitzen alle noch einmal zusammen. Hat sich der Aufwand, der | |
| 24-Stunden-Tag der Lehrer, die lange Vorbereitung für das Workcamp, | |
| gelohnt? „Die Frage erübrigt sich“, meint Fabian. Beim Grillen hat | |
| „Meetingpoint“-Leiter Albrecht Goetze noch eine Überraschung parat: Drei | |
| Nachkommen verstorbener Kriegsgefangener aus Neuseeland sind nach Görlitz | |
| gekommen. Die Zeitzeugen sagen den Schülern Danke für ihren Einsatz. „Die | |
| waren sehr berührt, als sie das gesehen haben, was wir hier machen“, sagt | |
| Tanja. Jeremy bringt es auf den Punkt: „Kann Schule nicht immer so sein?“ | |
| Mit der Rückfahrt nach Berlin ist das Projekt nicht beendet. Schulleiterin | |
| Hannelore Weimar und einige Lehrer wollen die Zusammenarbeit mit | |
| „Meetingpoint“ nachhaltig im Schulprogramm verankern. Das nächste Workcamp | |
| steht kurz bevor: das „Ziegelsteinprojekt“ vom 11. bis 15. Juni 2012. Den | |
| ermordeten und anonym beerdigten sowjetischen Kriegsgefangenen soll auf | |
| selbstgefertigten Tontafeln ihre Identität zurückgegeben werden. Die Daten | |
| werden gerade von den Schülern der 7. ISS recherchiert und die Gedenkziegel | |
| später auf dem Friedhof des Lagers angebracht. Jetzt muss noch die | |
| Finanzierung gesichert werden: 800 Euro müssen über Spenden gesammelt | |
| werden. „Wir sind guter Dinge“, sagt Schulleiterin Weimar. „Dieses Projekt | |
| hat verdient, dass es noch viele Schüler erleben können.“ | |
| Stefan Trampf, 55, Lehrer aus Tempelhof, taz-Genosse seit 2010 | |
| 13 Apr 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Trampf | |
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