# taz.de -- Aktivist Stephan über sechs Monate Occupy: "Kritik ist immer etwas… | |
> Occupy Hamburg wird sechs Monate alt. Der Besetzer Stephan hat der Kälte | |
> getrotzt und einem Orkan. Sein altes Leben vermisst er nicht, aber von | |
> einer anderen Welt träumt er - auf dem Land, mit Frau und Kindern. | |
Bild: Sieht es als seine Pflicht an, sich gegen Unrecht zu engagieren: Stephan. | |
taz: Stephan, mischst Du Dich gern ein? | |
Stephan: Sehr gern. Sobald irgendetwas ungerecht ist, erhebe ich die | |
Stimme. Wir leben in einer Demokratie. Es ist quasi Pflicht, wenn Unrecht | |
passiert, etwas dagegen zu machen. | |
Kommst Du aus einer Aktivistenfamilie? | |
Eher im Gegenteil, aber mein Vater ist politisch sehr interessiert und hat | |
sich immer über die Politiker aufgeregt. Meine Mutter ist dagegen politisch | |
eher uninteressiert. Sie sagt oft, "man kann es ja eh nicht ändern" oder | |
"die da oben machen eh, was sie wollen". Aber sie hat ein sehr großes Herz. | |
Als kleines Kind wusste ich überhaupt nicht, dass es Demos gibt. Das habe | |
ich erst später erfahren. Mir hat aber die Demokultur nicht gefallen, nur | |
von A nach B zu gehen, da kurz seinen Protest kundzutun und dann wieder | |
nach Hause zu gehen. | |
Was sagen Deine Eltern zu Occupy? | |
Die glauben nicht daran, dass es so einen starken Erfolg haben wird, aber | |
die Zeit wird zeigen, ob ich Recht habe oder meine Mutter. | |
Und Deine Freunde? | |
Die befürworten und unterstützen es, soweit es geht. Hier übernachtet haben | |
sie noch nicht, aber ganz langsam begreifen sie auch, was passiert und dass | |
es die Möglichkeit gibt, sich aktiv zu beteiligen. | |
Wie bist Du aufgewachsen? | |
Wohlbehütet mit viel Zuneigung, Verantwortung und Eigenständigkeit. Ich | |
hatte eine sehr schöne Kindheit mit liebevollen Eltern. Meine Eltern sind | |
getrennt und haben beide neue Partner - zwei sehr herzliche Menschen, die | |
sich meine Eltern ausgesucht haben. Ich bin in Hamburg geboren und groß | |
geworden - die ersten Jahre in Wilhelmsburg. Das hat mir sehr dabei | |
geholfen andere Kulturen kennenzulernen und Akzeptanz und Toleranz zu | |
entwickeln. Das Temperament eines Südländers gepaart mit der Coolness eines | |
Norwegers - fand ich schön. Man kannte es nicht anders, wieso sollte man | |
also etwas dagegen haben. | |
Wie ging es weiter? | |
Ich habe mehrere Ausbildungen gemacht. Ein paar habe ich abgebrochen, dann | |
aber auch eine zu Ende durchgezogen - Kaufmann im Einzelhandel, | |
Fachrichtung Tabak. Also sehr imperialistisch. Ich habe aber damals | |
gelernt, wie es sein kann, wenn Anbaubedingungen herrschen, die Menschen | |
nicht ausbeuten. Damals wurde noch die Handarbeit höher bewertet als die | |
maschinelle Anfertigung von Zigaretten. Das hat mir schon gefallen, dass | |
man das honoriert hat. Jetzt studiere ich Soziologie. | |
Wie ist ein Studium mit Occupy zu vereinbaren? | |
Ich habe ein Urlaubssemester und werde wahrscheinlich noch eines nehmen. | |
Ich werde mich hier so lange beteiligen, bis wir gewonnen haben, bis es | |
entweder einen Bewusstseinswandel gibt oder einzelne politische Organe | |
endlich wieder die Macht haben, Sachen zu verändern. Bis sie wieder frei | |
entscheiden gegen die Lobbyarbeit, gegen das korrupte System - für den | |
Menschen und nicht für Unternehmen. | |
Was hat sich für Dich persönlich verändert? | |
Eigentlich nicht so viel. Ich war früher mehr feiern. Das hat stark | |
nachgelassen. Man hat gar keine Lust mehr, sich sinnlos in irgendwelchen | |
Bars zu betrinken. Das scheint jetzt so unwichtig. Lieber ist man woanders, | |
um sich auszutauschen und zu unterhalten. Hier werden keine Drogen oder | |
Alkohol konsumiert. Das heißt, wir sind hier durchgehend ziemlich fit und | |
sobald man Alkohol konsumiert oder Drogen nimmt, stellt man sich auf | |
Standby. | |
Was meinst Du mit Standby? | |
Sobald man Alkohol getrunken hat, verändert sich die Wahrnehmung, das | |
Bewusstsein. Die rhetorischen Fähigkeiten werden herabgesetzt. Ich bin gern | |
wach, weil man mehr mitbekommt. | |
Hältst Du Kontakt zu Deinen alten Freunden? | |
Das ist enorm wichtig. Nur weil man sich aktiv hieran beteiligt, heißt das | |
ja nicht, dass man nicht mehr die Freunde sieht, die man vorher auch schon | |
hatte. Man lernt sie sogar mehr zu schätzen. Man freut sich darüber, dass | |
es den Anderen gibt, dass es ihm gut geht. Ich versuche zwar nicht zu | |
missionieren, aber wenn Themen aktuell sind, versuche ich auch darüber zu | |
diskutieren. Aber es ist auch schön, wenn es mal um ganz normale kleine | |
Probleme geht. | |
Worum geht es sonst? | |
Eigentlich nur um Musik. Wenn neue Musikstücke rauskommen, hören wir sie | |
uns gemeinsam an. Dann sitzt man einfach mal ein paar Stunden | |
nebeneinander, raucht Pfeife, trinkt Kaffee oder ein Gläschen Wein und | |
lässt die Musik auf sich wirken. An einem Abend saßen wir zu neunt in einem | |
Raum, haben uns eine Platte angehört und keiner von den neun Menschen hat | |
irgendein Wort gesagt, weil die Musik so füllend war. | |
Welche Bands hörst Du? | |
Razorlight, The Hives, Jet, Coldplay ab und zu. Es kommt darauf an. Schon | |
ein bisschen rocklastig. | |
Was vermisst Du aus Deinem alten Leben? | |
Gar nichts. Wenn man lange Zeit hier ist, besinnt man sich auf die | |
einfachen Dinge. Alles, was man vorher als Luxus oder selbstverständlich | |
gesehen hat, tritt dann eher in den Hintergrund, zum Beispiel fließendes | |
Wasser. Das tägliche Duschen ist auch nicht nötig. Mir kommt es so vor, als | |
ob die heutige Gesellschaft an einem Punkt angekommen ist, wo es nur noch | |
um Verbrauch geht und nicht um Besinnung und Ruhe. Wir leben in einer so | |
beschleunigten Welt, wo es mal wieder Zeit wird, entschleunigt zu leben. | |
Hast Du nicht manchmal genug, besonders wenn es so nass und kalt ist wie | |
heute? | |
Nee, eigentlich hat uns die Zeit bestärkt und zusammenrücken lassen. Als | |
wir minus 17 Grad hatten, war es schon eher ein bisschen komisch | |
festzustellen, dass man nicht abwaschen kann, weil das Spülmittel gefroren | |
ist. Man hat sich quasi ständig in einer Tiefkühltruhe aufgehalten. Das war | |
eine sehr interessante Zeit, die man auf gar keinen Fall missen möchte. Wir | |
haben uns ja stückchenweise an die Kälte gewöhnt. | |
Hast Du Deine Beteiligung nie infrage gestellt? | |
Es gab kleinere Momente, wo man kurz das Ganze hinterfragt hat. Einmal, als | |
ein Orkan kam und uns die Küche und den Infopoint zerfetzt hat. Wir hatten | |
innerhalb von ein paar Sekunden nur noch ein paar Igluzelte und haufenweise | |
Schrott. Wir mussten bei Null wieder anfangen. Aber wir hatten schon so | |
lange ausgeharrt und wollten uns nicht alles vom Wetter kaputtmachen | |
lassen. | |
Ärgert es Dich, wenn andere Occupy als albern oder unsinnig bezeichnen? | |
Ganz im Gegenteil. In dem Augenblick erlebt man, warum das System so ist, | |
wie es ist. In dem Augenblick, wo Menschen nicht verstehen oder nicht | |
hinterfragen, was wir hier machen, erlebt man immer die Front, gegen die | |
man anarbeitet. Das treibt mich an. Kritik ist immer etwas Positives. | |
War Dir von Anfang an klar, dass es lange dauern würde? | |
Gar nicht. Als wir am Freitag angefangen haben, diesen Platz zu besetzen, | |
hatte ich eigentlich nur mit einer Nacht gerechnet. Ich habe gedacht, "ok, | |
netter Spaß, nette Gespräche - wird bestimmt interessant". Ich habe dann | |
mittags den Platz verlassen und kam abends wieder und rechnete damit, dass | |
nur noch mein Zelt da steht, weil die Anderen keine Lust mehr hatten. Aber | |
das Gegenteil war der Fall. Es waren noch mehr Zelte und noch mehr Menschen | |
da. | |
Wann ist Dir klar geworden, dass es eine längerfristige Sache ist? | |
Am darauf folgenden Montag. Die Stimmung war enorm offen, freundlich, | |
herzlich, mit sehr viel Liebe und sehr viel revolutionärem Geist, mit | |
vielen verschiedenen Ansichten - ein durchgewürfelter Haufen von | |
konstruktiven Menschen, die irgendetwas bewegen wollten. | |
Wie könnte ein Leben für Dich aussehen, wenn Occupy vorbei ist? | |
Mit einer Frau, fünf Kindern, draußen auf dem Land, vielleicht selbst Essen | |
anbauen, ein funktionierendes Schulsystem. Das wäre schön. Aber es ist noch | |
ein weiter Weg. Es kommt darauf an, was für politische Entscheidungen | |
getroffen werden. Man kann zwar versuchen, sich selbst zu ändern, aber je | |
mehr die Politik anfängt, den einzelnen Menschen zu bevormunden und zu | |
regulieren, desto schwieriger wird es, frei zu leben. | |
Wird es diese Welt, die Ihr Euch erträumt, irgendwann geben? | |
Hier, auf diesem Platz, gibt es sie schon. | |
15 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Greta Köhler | |
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