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# taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Was in Frankreich zur Wahl steht
> Ganz Europa wartet voller Spannung darauf, für wen sich die Franzosen am
> Sonntag entscheiden werden. Denn es geht nicht zuletzt auch um das
> europäische Projekt.
Bild: Sigmar Gabriel findet François Hollande jedenfalls nicht "naiv".
Werden uns die französischen Wahlen einen neuen Präsidenten bringen? Und
wenn ja, wäre das ein Schritt zur Lösung all der Probleme, die nahezu die
gesamte Amtszeit des alten Präsidenten bestimmt haben? Der Wechsel wäre für
die Franzosen ein Segen. Die letzten fünf Jahre waren ein Rückschritt in
Sachen Demokratie und Volkssouveränität.
Ganz abgesehen von den notorischen Macken des Amtsinhabers Sarkozy: seine
Omnipräsenz, sein Exhibitionismus, seine Fähigkeit, heute dies und morgen
das Gegenteil zu sagen, sein Faible für die Reichen, das nur von seinem
Hang übertroffen wird, Arbeitslose, Migranten, Muslime oder Beamte zur
Zielscheibe des Volkszorns zu machen.
Nach dem Referendum über den EU-Verfassungsvertrag im Mai 2005 ignorierten
die Präsidentschaftskandidaten der zwei großen Parteien, dass die Mehrheit
der Franzosen gegen eine EU-Architektur war, deren Konstruktionsfehler
heute sichtbar werden. Die damalige Abstimmung hatte aber ein eindeutiges
Resultat, und zwar nach einer nationalen Debatte, die auf weit höherem
Niveau geführt wurde als der gegenwärtige Wahlkampf.
## Ein Land unter Einfluss
Zudem geht die Präsidentschaft Sarkozys, die bei uns den Voluntarismus
wieder hoffähig gemacht hat, mit einer Reihe verstörender Erklärungen zu
Ende. Während die Kandidaten der Linken den Banken Schranken setzen wollen,
meint der französische Wirtschaftsminister Baroin: "Gegen das Finanzsystem
zu sein, ist genauso dumm, wie zu sagen: ,Ich bin gegen den Regen', ,ich
bin gegen die Kälte' oder ,ich bin gegen den Nebel.' " Und
Ministerpräsident Fillon empfiehlt dem sozialistischen Kandidaten François
Hollande, er solle "sein Wahlprogramm von Standard & Poor's durchchecken
lassen".(1)
Zusätzlich ausgehöhlt wird die Souveränität des Volkes durch die
Unterordnung der französischen politischen Elite unter eine immer
arroganter auftretende deutsche Rechte, und damit unter das Credo einer
"marktkonformen Demokratie". Die Befreiung von dieser Hypothek ist die
Kernfrage der anstehenden Wahl. Sie zwingt uns, direkt und ohne Umschweife
über Europa zu diskutieren.
Niemand kann bezweifeln, dass die seit zwei Jahren verbissen umgesetzten
Sparprogramme die Verschuldungsprobleme keineswegs lösen. Wenn die Linke
diese finanzielle Würgschraube nicht infrage stellt, ist ihre Strategie von
vornherein zum Scheitern verurteilt. Angesichts des europapolitischen
Umfelds ist aber nicht vorstellbar, dass dies kampflos möglich wäre.
Zurzeit wird der Exitus noch durch eine Geldschwemme verhindert, mit der
die Europäische Zentralbank (EZB) die privaten Banken flutet, die billige
EZB-Kredite mit Zinsgewinnen an die Staaten weiterverleihen. Diese
Atempause verdanken wir aber nur der europäischen Notenbank, der das
EU-Vertragswerk leichtsinnigerweise die völlige "Unabhängigkeit"
garantiert. Langfristig hat sich die Mehrheit der EU-Länder auf eine
verschärfte Sparpolitik verpflichtet, wie sie von Berlin gefordert und von
Paris gehorsam übernommen wurde. Mitgliedstaaten, die dem zuwiderhandeln,
werden einem drakonischen Sanktionssystem unterworfen, das in dem derzeit
zur Ratifizierung anstehenden europäischen Fiskalpakt festgeschrieben
ist.(2)
## Spardiktat für die Ärmsten
Das Strafregime, unter dem Griechenland steht, droht jetzt auch Spanien,
das sein Haushaltsdefizit um ein Drittel verringern soll, obwohl die
Arbeitslosigkeit bei 23,6 Prozent angelangt ist. Davon ist Portugal nicht
weit entfernt. Es soll seine Staatsausgaben kürzen, während die Zinsen für
seine Anleihen rasant ansteigen und die Wirtschaft in die Rezession
abstürzt (2011 betrug das Minuswachstum 3 Prozent).
Dass die Sparschraube in Staaten mit hoher Massenarbeitslosigkeit angezogen
wird, ist nichts Neues. Es war das sozialökonomische Patentrezept, das in
den 1930er Jahren in Frankreich und in Deutschland angewandt wurde. Die
französischen Sozialisten erklärten damals mit Recht, dass eine Politik der
Deflation, also sinkender Staatsausgaben, "die Krise verschärft, die
Produktion zurückgehen lässt und die Steuereinnahmen mindert".3
Über die Dummheit der jetzigen politischen Maßnahmen wird sich aber nur
wundern, wer noch immer glaubt, diese würden im Namen des Gemeinwohls
ergriffen und nicht im Interesse einer Oligarchie von Privatiers, die an
den staatlichen Schalthebeln sitzt. Wenn die Finanzwelt ein Gesicht hat,
dann das dieser Leute. Wenn man den Feind beim Namen nennt, kann man ihn
besser bekämpfen.
Falls es in Frankreich zu einem politischen Wechsel kommt, müsste der neue
Präsident zuerst vor allem den Fiskalpakt - oder ähnliche
Austeritätsmaßnahmen - aufkündigen. Denn davon hängt alles weitere ab: die
Bildungspolitik wie Fragen des öffentlicher Dienstes und der
Steuergerechtigkeit bis hin zur Beschäftigungspolitik. François Hollande
will eine Trennung zwischen dem europäischen Solidaritätsmechanismus, den
er befürwortet, und der liberalen Schocktherapie, die er ablehnt. Er hat
sich dazu verpflichtet, den Fiskalpakt "neu auszuhandeln", um ihn durch
einen Abschnitt "Wachstum und Beschäftigung" zu ergänzen und das Ganze
durch europäische Industrieprojekte zu flankieren.
## Gretchenfrage Fiskalpakt
"Im Rahmen dieser Verträge kann es keine linke Politik geben", erklärt
dagegen Jean-Luc Mélenchon. Der Kandidat des Linksbündnisses Front de
gauche ist deshalb gegen den Fiskalpakt wie auch gegen den Europäischen
Stabilitätsmechanismus (ESM), der gefährdeten Ländern Finanzhilfen
verspricht, wenn sie sich auf drakonische Maßnahmen der Haushaltssanierung
einlassen. Die grüne Kandidatin Eva Joly setzt sich darüber hinaus für ein
"europäisches Schuldenaudit", also eine Überprüfung des Schuldenstands
durch die demokratische Öffentlichkeit ein.
Die trotzkistischen Kandidaten, Philippe Poutou und Nathalie Arthaud,
wollen die Staatsschuld sogar für illegitim erklären, und zwar mit dem
Argument, ihr aktuelles Niveau sei im Wesentlichen die Folge zu niedriger
Steuereinnahmen und zu hoher Zinsen, die an die Gläubiger gezahlt werden.
All das ist für die meisten europäischen Länder, allen voran Deutschland,
kein Thema. Sie wollen die Verträge nicht neu verhandeln. Und sie wollen
den Ländern mit Haushaltsproblemen keine größeren Summen leihen, wenn sie
nicht ihre "gute" Haushaltsführung unter Beweis stellen, sprich: weitere
Privatisierungsmaßnahmen akzeptieren und wesentliche Bereiche ihres
sozialen Netzes zur Disposition stellen, also etwa die Höhe von Renten,
Arbeitslosengeldern und Mindestlöhnen.
In einem Interview mit dem Wall Street Journal meinte der Präsident der
EZB, Mario Draghi, ironisch, die Zeiten, als die Europäer reich genug
waren, "dass sie sich leisten konnten, für jeden zu zahlen, der nicht
arbeitet", seien vorbei. Der frühere Goldman-Sachs-Vizepräsident erklärte
außerdem, eine "gute" Haushaltskonsolidierung zeichne sich dadurch aus,
dass "die Steuern niedriger sind" (was nicht einmal Nicolas Sarkozy
vorschlägt) und "die niedrigeren Staatsausgaben in Infrastrukturmaßnahmen
und andere Investitionen fließen".(4)
## Finanzminister aller Länder
Ein linker französischer Staatspräsident hätte nicht nur die meisten
(zumeist konservativen) europäischen Regierungen gegen sich, sondern auch
die EZB sowie die EU-Kommission unter dem Vorsitz von José Manuel Barroso.
Bewusst haben sich also die Premierminister Großbritanniens, Polens und
Italiens wie auch die deutsche Kanzlerin geweigert, den aussichtsreich im
Rennen liegenden François Hollande zu empfangen. Sie halten ihn für
unbequemer als den jetzigen Präsidenten.
"Wir sind ganz sicher nicht für Neuverhandlungen", hat der niederländische
Finanzminister Jan Kees de Jager bereits angekündigt. "Wenn François
Hollande hingegen mehr Reformen durchsetzen will, zum Beispiel bei der
Liberalisierung der Dienstleistungen oder bei Arbeitsmarktreformen, dann
sind wir auf seiner Seite." Kurzum: Die Unterstützung wäre einem linken
französischen Staatspräsidenten wie Hollande dann sicher, wenn seine
Politik noch marktliberaler ausfällt als die von Sarkozy.
Angela Merkel macht aus ihrer Parteilichkeit keinen Hehl. Sie war sogar zu
Auftritten bei Wahlveranstaltungen der französischen Konservativen bereit.
Die deutschen Sozialdemokraten bringen weit weniger Begeisterung für ihre
Genossen jenseits des Rheins auf. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel
bekundete zwar seine Solidarität mit François Hollande,(5) aber Peer
Steinbrück, der sich ebenfalls Hoffnungen macht, die Kanzlerin bei den
Wahlen im Herbst 2013 abzulösen, hat das Vorhaben Hollandes, die
europäischen Vereinbarungen neu zu verhandeln, als "naiv" bezeichnet.
Sollte Hollande gewählt werden, fügte er hinzu, könnte seine "konkrete
Politik" von seinen Aussagen im Wahlkampf abweichen.(6 )
## Stabilität ... und Wachstum
Dass es so kommt, lässt sich tatsächlich nicht ausschließen. Schon 1997
hatten die französischen Sozialisten vor den Parlamentswahlen versprochen,
den in Amsterdam unterzeichneten Europäischen Stabilitätspakt neu zu
verhandeln. Der damalige Parteivorsitzende Lionel Jospin sah darin "ein
absurdes Zugeständnis an die deutsche Regierung". Doch als die französische
Linke dann Regierungsmacht ausübte, erreichte sie kaum mehr, als dass die
Bezeichnung "Stabilitätspakt" zu "Stabilitäts- und Wachstumspakt" erweitert
wurde.
Hollandes Wahlkampfleiter Pierre Moscovici, ehemals Europaminister im
Kabinett von Jospin, ist 2003 noch einmal auf diese semantische Pirouette
zurückgekommen. Was er damals, ein Jahr nach dem Ende der Regierung Jospin
geschrieben hat, lässt einen fast zwangsläufig an die Situation denken, die
nach der Wahl vom 6. Mai eintreten könnte: "Der Amsterdamer Vertrag war
ausgehandelt worden, und zwar sehr schlecht, bevor wir die
Regierungsgeschäfte übernahmen. Er hatte viele Mängel - vor allem was die
sozialen Inhalte betrifft […] Die neue Regierung hätte ihn nicht
unterzeichnen müssen […] oder zumindest neue Verhandlungen verlangen
können."
Warum sie das dann am Ende nicht getan hat, erklärte Moscovici damit, dass
man damals eine dreifache Krise vermeiden musste: Erstens "eine
deutsch-französische Krise, weil ein Rückzieher unsererseits das Verhältnis
zu diesem wichtigen Partner von Anfang an schwierig gemacht hätte";
zweitens eine "Krise im Verhältnis zu den Finanzmärkten, die den Vertrag
ratifiziert haben wollten"; und drittens eine "Krise der Kohabitation", das
heißt im Zusammenwirken zwischen der Regierung und dem rechten Präsidenten
Jacques Chirac.
## Eventuell vollkommen neue Kräftverhältnisse
Aus all diesen Gründen habe sich "Lionel Jospin zu Recht dafür entschieden,
das Terrain zu meiden, einen elastischen Rückzug und zugleich Ausweg nach
vorn zu suchen". Dieses Kunststück sei ihm damit gelungen, dass er "als
Gegenleistung für die Zustimmung zum Amsterdamer Vertrag die erste
Entschließung des Europäischen Rats zu Wachstum und Beschäftigung
durchsetzte".(7 )
Sollte die Linke diesmal sowohl die Präsidentschaftswahlen als auch die
kurz darauf folgenden Parlamentswahlen gewinnen, wäre das Szenario in
zweifacher Hinsicht anders. Einerseits gäbe es nicht, wie vor 15 Jahren,
eine geteilte Exekutive. Andererseits ist die politische Balance in Europa,
die sich 1997 in Richtung Mitte-links neigte, inzwischen nach rechts
gekippt. Allerdings äußert heute selbst ein so konservativer Regierungschef
wie der Spanier Rajoy Bedenken gegen die Rosskur des Dauersparens, die ihm
die Deutschen verordnen wollen. Am 2. März gab er seine "souveräne
Entscheidung" bekannt, dass er sich die Zwangsjacke der europäischen
Haushaltsdisziplin nicht einfach überziehen wolle.
Zugleich verlangte ein Dutzend weiterer Länder, darunter Italien,
Großbritannien und Polen, eine Neuorientierung der vom
deutsch-französischen Tandem ausgeheckten Wirtschaftspolitik. François
Hollande könnte sich freuen. Hofft er doch, dass seine Wahl die
europäischen Kräfteverhältnisse so verändert, dass ihm erspart bleibt, was
ihm offensichtlich gar nicht behagt: eine Kraftprobe mit etlichen
europäischen Regierungen, der EZB und der Brüsseler Kommission.
## Wo sich Hollande und Sarkozy treffen
Allerdings hat die Neuausrichtung, die sich die neoliberalen Regierungen
wünschen, wenig mit der zu tun, die Hollande und seine Freunde empfehlen.
Für die einen ist "Wachstum" gleichbedeutend mit einer Angebotspolitik à la
Thatcher (mittels Steuersenkungen, Abbau sozialpolitischer Errungenschaften
und umweltpolitischer Regelungen), die anderen setzen voraus, dass dazu ein
Paket staatlicher Investitionen (in Bildung, Forschung, Infrastruktur)
erforderlich ist.
Diese Zweideutigkeit lässt sich auf Dauer nicht durchhalten. Sehr schnell
wird man den "europäischen Ungehorsam" ins Auge fassen müssen, wie ihn
Mélenchon und andere Kräfte der Linken empfehlen. Es sei denn, man macht
einfach und ohne Hoffnung weiter wie bisher.
Obwohl sich Sarkozy und Hollande in manchem unterschieden- zum Beispiel in
Sachen Steuergerechtigkeit -, so haben sie doch beide die entscheidenden
europäischen Verträge befürwortet, von Maastricht 1990 bis Lissabon 2009.
Beide haben die drakonischen Ziele für den Abbau des Haushaltsdefizits (auf
höchstens 3 Prozent des BIPs für 2013, auf 0 Prozent für 2016 oder 2017)
gebilligt. Beide sind gegen Protektionismus und setzen voll auf Wachstum.
Und beide vertreten dieselbe Außen- und Verteidigungspolitik, seit die
französischen Sozialisten nicht einmal mehr die Wiedereingliederung
Frankreichs in die integrierte Kommandostruktur der Nato infrage stellen.
Doch jetzt ist die Zeit gekommen, mit all diesen Dogmen zu brechen. Ein
Präsidentenwechsel ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Aber weder die
Geschichte der linken Regierungen noch der aktuelle Wahlkampf erlauben die
Vorstellung, dass diese Voraussetzung schon hinreichend sein könnte .
Fußnoten:
(1) Zitiert nach RTL, 22. Januar 2012 (Baroin) und Journal du dimanche, 15.
Januar 2012 (Fillon).
(2) Offizielle Bezeichnung: Vertrag über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion. Dieser sogenannte
SKS-Vertrag wurde von allen EU-Mitgliedstaaten außer Großbritannien und
Tschechien unterzeichnet.
(3) Präambel zur Gesetzesvorlage der sozialistischen Fraktion für den
Staatshaushalt 1933
(4) [1][www.ecb.europa.eu/press/key/date/2012/html/sp120224.en.html].
(5) Das machte Gabriel auch in einem "Doppelinterview" deutlich, das er
gemeinsam mit Hollande für die Pariser Libération und die Frankfurter
Allgemeine Zeitung gab: FAZ, 26. März 2012.
(6) Bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Washington, zitiert nach AFP, 15.
Februar 2012.
(7) Pierre Moscovici, "Un an après", Paris (Flammarion) 2003, S. 90 f.
Aus dem Französischen von Thomas Laugstien
Le Monde diplomatique vom 13.4.2012
22 Apr 2012
## LINKS
[1] http://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2012/html/sp120224.en.html
## AUTOREN
Serge Halimi
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