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# taz.de -- Video der Woche: Glaube, Hiebe, Hoffnung
> Der Aufruf zur „Antikapitalistischen Walpurgisnacht“ im einstmals Roten
> Wedding verspricht Erlösung für die Massen. Fragt sich nur, was die
> Weddinger davon halten.
Bild: Blutige Gesichter gibt es heute allenfalls nach Auseinandersetzungen unte…
Jede Region hat ja so ihre Traditionen. Was dem Bayern sein Oktoberfest und
dem Kölner der Karneval, ist dem Berliner der Revolutionäre Erste Mai. Die
dort üblichen Verkleidungen sind in ihrer motivischen Enge zwar etwas
uninspiriert, dafür sind die Kollateralschäden im Vergleich zu den
Verheerungen in München oder Köln doch vergleichsweise geringfügig.
Recht neu im Brauchtum ist die Antikapitalistische Walpurgisnacht.
Herangewachsen im Prenzlauer Berg der Nachwendezeit wanderte sie später
nach Friedrichshain, um nun erstmals im Wedding zu gastieren.
Eingeladen wird mit den üblichen Plakaten und Flyern im klassischen
Autonomen-Look, aber auch ganz zeitgemäß via Youtube-Video. Gezeigt werden
historische Bilder rund um die Vorgänge des sogenannten Berliner Blutmai
von 1929, filmisch montiert in aktueller Video-Ästhetik. Dazu erklingt das
alte Arbeiter-Kampflied „Roter Wedding“ in einer Remix-Fassung.
So wird zu Konzert, Kundgebung und Demo am S- und U-Bahnhof Wedding
aufgerufen, abgeschlossen mit einem Zitat des „Erlösers“ aus „Matrix“:…
werde den Menschen das zeigen, was sie nicht sehen sollen (...) Wie es dann
weitergeht, das liegt ganz an euch.“ Parallel dazu fordert die
Texteinblendung in etwas rumpeligerer Diktion: „Kampf der Reaktion! Der
Kapitalismus muss immer Hiebe kriegen!“ Es folgt das Motto der
Walpurgisnacht Wedding: „Nehmt euch, was euch zusteht!“, gefolgt vom Claim:
„Gegen Rassismus und soziale Spaltung!“.
Roter Wedding, Blutmai, der Erlöser und der Kampf gegen Kapitalismus,
Reaktion, Rassismus, soziale Spaltung sowie natürlich, wie die
ausführlichen Aufrufe im Netz betonen, ganz trendbewusst auch gegen die
Gentrifizierung: ein hochkomprimierter wie anspielungsreicher Rundumschlag,
der einen näheren Blick verdient. Denn der Wedding erlangte in der Weimarer
Republik Berühmtheit als Arbeiterviertel und Hochburg der KPD, der Blutmai
war eine mehrtätige Auseinandersetzung zwischen der kommunistischen
Bewegung und der Polizei, die pikanterweise damals wie heute unter der
politischen Verantwortung der SPD stand.
## Sündenfall der SPD
Der damalige Polizeipräsident hatte aufgrund der politisch aufgeheizten
Stimmung ein generelles Demonstrationsverbot erlassen und war nicht bereit,
es für die traditionellen Maikundgebungen aufzuheben. Aus dem Umfeld der
KPD kam es dennoch zu Kundgebungen, die Polizei ging rigoros mit
rücksichtsloser Waffengewalt dagegen vor. Mindestens 32 Tote waren am Ende
zu beklagen. Die Vorgänge gelten bis heute als Sündenfall der SPD und als
Katalysator für den Aufstieg der NSDAP. Dass die Antikapitalistische
Walpurgisnacht sich direkt in diese Tradition stellt, ist angesichts der
politischen Verhältnisse in Berlin eine deutliche Ansage.
Ähnlich verhält es sich mit dem Lied „Roter Wedding“. Der zackige, von
Hanns Eisler komponierte und in der Ursprungsform von Erich Weinert
getextete Marsch ist eines der bekanntesten Lieder der Arbeiterbewegung, es
entstand als Auftrittssong der Agitprop-Gruppe „Der Rote Wedding“. Die
markante Strophe „Links, links, links, links! / Trotz Faschisten und
Polizei! / Links, links, links, links! / Wir gedenken des 1. Mai! / Der
herrschenden Klasse blut'ges Gesicht, / der Rote Wedding vergisst es nicht,
/ und die Schande der SPD!“ könnte man im heutigen Kontext als Ausdruck
einer gewissen Unzufriedenheit mit der dritten Wowereit-Regierung
interpretieren.
Historisch-künstlerisch also, so viel kann festgehalten werden, trifft das
Video voll ins Rot-Schwarze. Und zeigt mit der sphärisch-religiösen
Schlusspointe einen bezaubernden Realitätsbezug.
## Ist doch alles nur Film
Dass jemand, der heute den Geist der Arbeiterklasse im Kampf gegen den
Kapitalismus beschwört, eher im Bereich der Fantasy als der Politik
verhaftet ist, muss man als ironisierte Selbstreflexion ebenso aus dem
pathetischen Neo-Zitat herausdeuten wie eine ins doch arg übersteigert
gehende Selbstverortung der Aufrufer als Erlöser der Massen. Aber,
augenzwinker: Ist doch alles nur ein Film, ist doch alles nur Show.
Denn über das revolutionäre Potenzial im Wedding des frühen 21.
Jahrhunderts kann man durchaus geteilter Meinung sein. Der ehemalige
Arbeiter- ist längst ein Arbeitslosenbezirk, in dem unter Kapitalismus eher
das 24-Stunden-Casino um die Ecke verstanden wird, und gegen das mag sich
hier garantiert niemand erheben.
Blutige Gesichter gibt es allenfalls nach Auseinandersetzungen unter
Jugendgangs, etwa um die Frage, ob irgendjemand in der Nachbarschaft
womöglich schwul sei. Dabei wird dann dem Gegenüber ganz gern mal gegeben,
was ihm nach Meinung des Opponenten zusteht. Wer oder was schließlich die
SPD sein soll, interessiert hier ohnehin niemand.
Zudem: Das bislang einzige Anzeichen von Gentrifizierung im Wedding besteht
darin, dass nun eine Horde von Zugezogenen mit Erlösungsfantasien hier
einfällt, die Lufthoheit beansprucht und die einheimische Bevölkerung aus
dem öffentlichen Raum verdrängt. Zum Glück vorerst nur für einen Tag,
hoffentlich bleibt es dabei. Denn wie es heute dort aussieht, wo die
Antikapitalistische Walpurgisnacht in den Jahren zuvor begangen wurde, im
Prenzlauer Berg und im Friedrichshain, das könnte einen schon alarmieren.
Die Weddinger aber, darauf kann man getrost einen Kasten Sternburg
verwetten, werden auf diesen Auflauf reagieren, wie es ihre Art ist: mit
Ignoranz und Unverständnis. Das ist doch durchaus beruhigend.
27 Apr 2012
## AUTOREN
Heiko Werning
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