# taz.de -- Das Kind vom „Weltwoche“-Cover: Der Junge, der die Schweiz ausr… | |
> Auf dem Cover der Schweizer „Weltwoche“ zielte der kleine Mentor auf die | |
> Eidgenossen. Ein Besuch bei seiner Familie im Romaghetto im Westen des | |
> Kosovo. | |
Bild: Der Haarwirbel über dem rechten Auge, der fallende Augenwinkel, leichter… | |
GJAKOVA taz | Man erkennt sie an ihren Händen: schwarz wie die Krähen, die | |
von den Abfallbergen in den Himmel steigen. Frühmorgens, wenn Sonne und | |
Konkurrenz noch schlafen, begeben sich die MüllsammlerInnen von Gjakova in | |
die umliegenden Städte und Dörfer auf der Suche nach verwertbarem Schrott. | |
Ihre Schätze sind die Abfälle der anderen. Die Arbeit ist mühsam und hart, | |
aber für die Roma im Westen des Kosovo ist sie eine der wenigen | |
Möglichkeiten, sich ein Einkommen zu sichern. | |
Anfang April wurde er einer größeren Öffentlichkeit bekannt: ein kleiner | |
Junge mit dunkler Haut, dunklen Augen, dunklen Haaren – er hielt eine | |
Spielzeugpistole in der Hand und zielte auf den Betrachter. In Wahrheit | |
aber zielte eine Zeitschrift auf ihn – und auf seine Gemeinschaft. Die | |
Schweizer Weltwoche, die das Foto des Jungen auf ihrem Cover | |
veröffentlichte, titelte darunter: „Die Roma kommen: Raubzüge in die | |
Schweiz“. | |
Jetzt schaut Mentor M. etwas ratlos in die Runde: Der Haarwirbel über dem | |
rechten Auge, die fallenden Augenwinkel, der leichte Silberblick – er ist | |
ohne Zweifel der Junge vom umstrittenen Weltwoche-Titelbild. | |
Mentor und seine zwei Schwestern Sinita und Shkurte setzen sich schüchtern | |
neben ihre Eltern Rexhep und Teuta. Sie hocken in einem knapp zwölf | |
Quadratmeter großen Raum im Romaghetto bei Gjakova im Westen des Kosovo. | |
## Er zeigt Mentor das Heft | |
Die Wände sind rosafarben gestrichen, ein Herd steht in der Ecke, im | |
Hintergrund läuft ein kleiner Fernseher, ein alter Computerbildschirm | |
flimmert. Als der Vater die Zeitschrift zum ersten Mal sieht, schlägt er | |
die Hände vors Gesicht, im Bewusstsein, dass eine Kamera auf ihn gerichtet | |
ist, und sagt dann: „Ich bin schockiert. Mein Sohn – jeder kann ihn so | |
sehen, mit einer Pistole in der Hand. Die Leute werden denken, wir seien | |
Kriminelle, Diebe.“ | |
Rexhep zeigt Mentor das Heft: Er wirkt unsicher, schüttelt den Kopf. Als | |
das Foto geschossen wurde, war Mentor gerade mal vier Jahre alt. Heute, | |
achtjährig, erinnert er sich nicht mehr daran. Am nächsten Tag wird seine | |
Tante Shyhrete erzählen, Mentor habe in der Nacht wegen des Fotos geweint. | |
„Wir sind keine Verbrecher“, sagt Rexhep. Mentors jüngere Schwester Sinita | |
lutscht an einem Plastikstängel, den sie zuvor in ein Tütchen Zucker | |
gesteckt hat. Rexhep zeigt mit der Hand in den mit Teppichen ausgelegten | |
Raum, der der fünfköpfigen Familie als Wohn- und Schlafzimmer dient: „Wir | |
sind ehrliche, einfache Leute. Sie sehen ja, wie wir hier leben: Wir haben | |
kaum zu essen, keine Arbeit, nichts.“ | |
Im Jahr 2008 hatte der Italiener Livio Mancini als eingebetteter Fotograf | |
der KFOR-Truppen die Romasiedlung bei Gjakova besucht und Mentor mit der | |
Spielzeugpistole abgelichtet. Die Weltwoche verwendete Mancinis Bild als | |
Illustration für ihre Titelgeschichte über kriminelle Roma in der Schweiz. | |
Nur: Weder Mentor (der laut Weltwoche-Autor Philipp Gut als Symbol dafür | |
stehe, „dass Roma-Banden ihre Kinder für kriminelle Zwecke missbrauchen“) | |
noch dessen Familie haben das Kosovo je verlassen. | |
Der Slum, in dem Mancini Mentor fotografiert hat, existiert noch immer. | |
Aber er hat sich verändert: Seit 2009 engagiert sich die Schweizer Caritas | |
in Gjakova. Mit Mitteln aus der Schweiz, Österreich, Lichtenstein und dem | |
Kosovo sowie der Stadt Gjakova und der Romagemeinde selbst betreibt sie | |
hier ein Hilfsprojekt für die rund 800 Roma in der „Kolonie“, wie die | |
BewohnerInnen die illegal gebaute Siedlung nennen. | |
Das Ziel: Umsiedlung und nachhaltige soziale Integration von rund 120 | |
Familien. Insgesamt 120 Häuser sollen in drei Phasen gebaut werden: Die | |
ersten 29 Häuser stehen schon, die nächste Bauetappe soll demnächst | |
beginnen und bis Herbst abgeschlossen sein. | |
## Lieblingsfach Zeichnen | |
Der achtjährige Mentor lebt mit seiner Familie am Ende der Siedlung, | |
dahinter liegt eine große Wiese, ein ehemaliges Tabakfeld, und alle paar | |
Meter nasse Kartons, zerrissene Säcke, rostende Büchsen. Gleich neben dem | |
Haus befindet sich das offizielle Mülldepot K-Ambienti, wo Pet-, Plastik- | |
und Papierabfälle sortiert, gepresst und gebündelt werden. | |
Die alte, illegale Deponie befindet sich am anderen Ende der Siedlung. Dort | |
hätten die Kinder früher gespielt, sagt Rexhep, Mentors dreißigjähriger | |
Vater. Aber seit einem Jahr besucht Mentor eine öffentliche Schule in | |
Gjakova, keine zwanzig Gehminuten von der Kolonie entfernt. Zuvor hat er | |
die Kita der Caritas in Ali Ibra besucht. | |
Mentor geht gern zur Schule, sagt er. Sein Lieblingsfach sei Zeichnen. Aber | |
wenn es nach dem Vater geht, soll Mentor zu Hause bleiben. Rexhep sagt, er | |
befürchte, dass Mentor gehänselt und als Krimineller beschimpft werde. | |
„Über das Internet kann jeder das Bild betrachten und den Titel | |
übersetzen.“ Die ganze Geschichte macht Rexhep wütend. Er sagt, er wolle | |
wegen der missbräuchlichen Verwendung des Bildes Anzeige gegen die | |
Verantwortlichen erstatten. | |
In Österreich, Deutschland und in der Schweiz wurden bereits verschiedene | |
Klagen wegen Rassismus und Volksverhetzung gegen die Weltwoche eingereicht. | |
Um selbst gerichtlich gegen die Schweizer Zeitschrift vorgehen zu können, | |
benötigt Rexhep M. Hilfe, alleine wird er das kaum machen können, schon der | |
Kosten wegen. Derzeit berät man in der Schweiz und in Deutschland, wie er | |
unterstützt werden kann. | |
Rexhep M. erhält monatlich 75 Euro Sozialhilfe, allerdings nur noch zwei | |
Monate lang, dann ist Schluss. Seine jüngste Tochter ist eben sechs | |
geworden, und der Staat zahlt nur für Kinder bis fünf Jahre. Jeden Tag | |
fährt Rexhep frühmorgens in die Stadt und sucht Arbeit – mit einem kleinen, | |
offenen Gefährt, auf das hinten eine Kreissäge montiert ist. Manchmal | |
erhält er einen Auftrag oder er hilft Kollegen. | |
So läppert sich ein wenig Geld zusammen. Mal verdiene er drei Euro am Tag, | |
mal fünf, sagt Rexhep. Ein Arbeitskollege von Rexhep erzählt, dass es | |
bisweilen mehr sei: Zehn, fünfzehn Euro an einem guten Tag. Der monatliche | |
Durchschnittslohn im Kosovo beträgt etwa 200 Euro. Allerdings, sagt der | |
Kollege, hätten sie meistens nur etwa zwei Tage pro Woche Arbeit. Trotzdem | |
sagt Mentor, als er nach seinem Berufswunsch gefragt wird: „Ich will mit | |
Holz arbeiten, wie mein Vater.“ Später findet Mentor Gefallen an Kamera und | |
Notizblock. Seine Pläne haben sich geändert. Er sagt, er wolle „Gazetar“ | |
werden: Journalist. | |
Am nächsten Tag besuchen wir Mentors Familie ein zweites Mal: Rexhep ist am | |
Morgen mit seinem blauen Sägewagen in die Stadt gefahren. Viel Arbeit hat | |
es nicht gegeben. Er sagt, er gehe später noch einmal. Aber jetzt will er | |
durch die Siedlung spazieren, sein altes Haus zeigen. Übrig geblieben ist | |
nur noch das Gemäuer, alles Brauchbare wurde abmontiert: Fenster, Türen, | |
Schindeln auf dem Dach. | |
Vor zwei Jahren konnte Rexheps Familie das größere Haus eines Bekannten | |
übernehmen. Jetzt haben sie neben dem Wohnzimmer auch ein Vorzimmer, das | |
als eine Art Küche dient. Deshalb ist die Umsiedlung der Familie erst für | |
die zweite, eher sogar für die dritte Bauphase geplant – in Ali Ibra gibt | |
es viele Familien, die noch ärmer sind als die von Mentor. | |
## Was soll ich hier? | |
Zum Beispiel Shyhrete, Rexheps Schwägerin. „Es ist total beschissen hier“, | |
sagt sie auf Deutsch. Als einjähriges Baby nahmen sie ihre Eltern mit nach | |
Deutschland. Sie hat ihre gesamte Jugend in der Nähe von Münster verbracht. | |
Als sie volljährig wurde, schob man sie ab. Seit zwei Jahren ist sie in Ali | |
Ibra. „Was soll ich hier? Ich bin in Deutschland zur Schule gegangen, habe | |
meine Ausbildung dort gemacht. Ich habe nie wirklich im Kosovo gelebt. Mit | |
neunzehn musste ich dann hierher.“ | |
Rexhep nimmt Shyhretes Kind auf den Arm. Es ist kreidebleich. „Nermin hat | |
über 40 Grad Fieber. Er kann kaum atmen. Ich war vorhin mit ihm im | |
Krankenhaus, da musste er an ein Inhalationsgerät. Aber wie soll ich das | |
bezahlen? Mein Mann findet vielleicht zweimal im Monat Arbeit. Dann kriegt | |
er ein paar Euro. Das reicht nicht. Schon das Milchpulver kostet ja fünf | |
Euro.“ | |
Es wird Abend, der Himmel ist in Grautöne zerrissen. Kinder wühlen in einem | |
Abfallberg. Hier irgendwo muss das Foto von Mentor mit der Spielzeugpistole | |
entstanden sein. Müllsammler vertreiben die Kinder. Ein kleines Mädchen | |
bleibt stehen und zerrt an einem Babywagen, der im Müll steckt. Ein | |
Arbeiter ruft ihr etwas zu, sie fasst den dreckigen Wagen mit beiden | |
Händen, ein Ruck, sie zieht ihn heraus, schleppt ihn die Böschung hoch und | |
verschwindet auf dem schlammigen Weg in Richtung der Ali-Ibra-Siedlung. | |
Schwarze Plastikfetzen hängen am Zaun. Tauben graben im Dreck. Ein | |
ständiges Rascheln und Gurren und Hundebellen stört die Stille. Es riecht | |
verfault. Dann regnet es, Dampfwolken stehen über den Abfallhaufen. | |
Der Text erschien zuvor in einer Langfassung in der Schweizer | |
Wochenzeitung. | |
2 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Carlos Hanimann | |
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