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# taz.de -- Gigantische Sperrtore sollen Venedig retten: Machet die Tore zu
> Venedig sinkt, der Meeresspiegel steigt. Diesen Monat beginnen die
> Bauarbeiten für ein Megaprojekt zum Schutz der Lagune. Viele fürchten,
> dass es mehr zerstört als nützt.
Bild: (Noch) ein schöner Anblick: Der Markusplatz im Mai 2012.
VENEDIG taz | Vor den Markusplatz schiebt sich eine riesige weiße Wand.
Höher als der Dogenpalast, 300 Meter lang und keine hundert Meter von der
Uferpromenade entfernt, pflügt das Kreuzfahrtschiff „MSC Music“ durch die
historische Kulisse. Hunderte von Passagieren stehen an der Reling und
genießen den Ausblick. Zwei Schlepper bugsieren den Ozeanriesen mit einem
Tiefgang von sieben Metern durch die Lagune, die hier eigentlich nur zwei
Meter tief ist.
Die Bugwelle der schwimmenden Spaßfabrik schwappt auch unter einem kleinen
achteckigen Häuschen am Ufer durch. Nur ein paar Antennen und Messgeräte an
dem Bretterverschlag deuten an, wie wichtig diese Hütte ist. Hier vor der
Barockbasilika Santa Maria della Salute an der Landspitze gegenüber von
Dogenpalast und Markusplatz messen die Behörden den offiziellen
Wasserpegel, der über Rettung oder Untergang des Unesco-Kulturerbes
entscheidet.
Gerettet wurde Venedig schon öfter: vor der Völkerwanderung, vor der Pest
und immer wieder vor dem Hochwasser. Aber jetzt wird es wirklich ernst: Das
Land, auf dem die Palazzi stehen, senkt sich ab, das Meer steigt durch den
Klimawandel unerbittlich. Was bei anderen Städten eine Metapher ist, lässt
sich in Venedig mit dem Zollstock messen: Im 20. Jahrhundert kam die Stadt
ihrem Untergang 23 Zentimeter näher. Und immer häufiger ruft die Messstelle
vor Santa Maria della Salute „Aqua alta“ aus: Gab es in den 50er Jahren
18-mal Hochwasser, so bekam Venedig im vergangenen Jahrzehnt 65-mal nasse
Füße.
Da kommt ein biblischer Schutzpatron gerade recht: Die Mose-Sperrtore
([1][siehe Grafik]) sollen die Stadt vor den Fluten retten. Nach 20 Minuten
mit dem Schnellboot durch die Lagune empfängt Enrico Pellegrini,
Mose-Bauleiter, in Malamocco. Hier wurde eine künstliche Insel in den
Meeresboden gestampft, groß wie 250 Fußballfelder. Auf ihr ruhen 18
Betonfundamente und die Hoffnung der italienischen Regierung, mit einem der
größten Infrastrukturprojekte Europas die Lagune und Venedig zu retten.
Ende Mai werden die ersten Fundamente im Meeresboden versenkt.
## 20.000 Tonnen Stahlbeton
In Malamocco warten die Ungetüme von jeweils 20.000 Tonnen Stahlbeton auf
ihren Einsatz. Groß wie Häuserblöcke lagern sie auf hydraulischen Pressen
auf staubigem hellen Kies. 3.500 Menschen arbeiten für Mose, und
Pellegrini, ein freundlicher Ingenieur mit randloser Brille und Wollpulli
unter der gelben Warnweste, erklärt geduldig die Details. „Die Fundamente
schwimmen von selbst und werden an ihren Einsatzort gezogen. Dann fluten
wir sie und versenken sie in einer Baugrube am Meeresboden.“ Später werden
die Tore installiert. Es gibt 78 Fundamente an vier Standorten, pro Stück
rechnen sie mit zwei Wochen Arbeit und hoffen auf gutes Wetter. Dies dürfte
bis Ende 2013 dauern, aber Pellegrini hat Geduld. Er arbeitet schon seit
2005 an Mose.
Planung und Logistik sind eine Leistungsschau der italienischen Baubranche.
Die hat sich zum Consorzio Venezia Nuova zusammengetan und die lukrativen
Aufträge unter sich verteilt. Öffentliche Ausschreibungen gab es nicht.
Gerettet wird vielleicht die Lagune, aber auch die Bauindustrie. Stahl und
Beton gegen steigende Meeresspiegel sind in Zeiten des Klimawandels eine
gute Geschäftsidee. London und Rotterdam haben ähnliche Sperrwerke,
Pellegrini hat oft auswärtige Besucher. „China, Vietnam, Bahrain, alle
waren hier“, sagt der Bauleiter. Seine Firma GLF hofft auf Aufträge.
Genau das macht Tommaso Cacciari wütend. „Mose macht die Baufirmen reich,
hilft uns aber nicht.“ Auch er will Venedig retten. Allerdings nicht durch,
sondern vor Mose. Der Sozialarbeiter knallt im alternativen Kulturprojekt
Morion in Venedigs armem Osten Castello erst einmal ein zwei Kilo schweres
Planungsdokument auf den Tisch. Es beinhaltet 18 Alternativvorschläge der
Kommune Venedig: schwenkbare Deiche, schwimmende Sperren, aufblasbare
Wälle. Keiner wurde berücksichtigt. Seit dem verheerenden Hochwasser von
1966 wird über Rettungsmaßnahmen diskutiert. „Aber sie sollten rückholbar
sein“, erinnert sich Cacciari. Mose ist das Gegenteil: Einmal versenkt,
sollen die Fundamente für 100 Jahre im Wasser bleiben.
„Mose hat ein Demokratieproblem“, sagt Cacciari. „In Rom wollen es alle
Parteien, hier sind alle dagegen“. Über Jahrhunderte hat die Lagunenstadt
ihre Wasserpolitik selbst bestimmt, jetzt entscheidet Rom: Über die
Wasserbehörde der Stadt, den Magistrato alle aque, hat sie das Consorzio
eingesetzt, ihm den Bau von Mose übertragen und mit fünf Milliarden Euro an
Steuergeldern ausgestattet. Cacciaris Onkel Massimo, ein bekannter
Intellektueller und Philosoph, hat sich zehn Jahre lang als linker
Bürgermeister Venedigs gegen Mose gewehrt. Vergeblich.
## Rom profitiert
„Ach, wenn es nur das Geld wäre“, seufzt Tommaso Cacciari. Er fürchtet,
dass Mose mehr zerstört als nützt: Mehr Wasser komme schneller in die
Lagune, und die Kreuzfahrtschiffe und Chemietanker, die sich täglich durch
die sensible Lagune schieben, fahren weiter. Nur für sie werde der Boden
bei Mose stellenweise bis zu 14 Meter tief ausgebaggert. Gerade nach der
Strandung der „Costa Concordia“ im Januar an der italienischen Westküste
schlagen die Wellen der Empörung hoch, wenn Riesenpötte durch Venedig
fahren. „Aber die Entscheidung liegt in Rom. Und da gehen auch die
Hafengebühren hin.“
Ob Mose die Rettung bringt, hängt schon in der biblischen Geschichte vom
Standpunkt ab. Während die Israeliten trockenen Fußes durchs Meer ziehen,
geht die Armee des Pharao mit Mann und Maus unter. Das gefürchtete Aqua
alta sei zum großen Teil durch Menschen verursacht, sagt Cacciari. Die
Lagune ist heute durch Straßen und Flughafen um ein Drittel kleiner als
früher, das bringe eben Überschwemmungen. „Die Lagune ist keine Badewanne,
die man mit einem Stöpsel regulieren kann“, kritisiert er. „Und was machen
wir bei Regen? Die letzte große Überschwemmung hatten wir in Norditalien
durch die Flüsse, die auch in die Lagune münden.“
Venedig retten? Ciacciari lacht bitter. „Schauen Sie sich doch um hier!“
Das Kulturzentrum ist ein historisches Gebäude, das langsam zerbröckelt.
Irgendwann haben sie es einfach besetzt. Hierher fliehen Venezianer immer
wieder vor der Touristenkultur. Jeden Freitag spielt eine Band, es wird
Pizza gebacken und an den Wänden hängen Demoaufrufe der linken Szene aus
ganz Europa. Gegenüber liegt hinter einer brüchigen Backsteinmauer das
Krankenhaus Ospedale Civile. „Und das machen sie uns jetzt zu“, klagt
Cacciari. „Kein Geld und zu wenig Menschen in der Stadt.“
## „Veniceland“ für Touristen
Jedenfalls zu wenig Einheimische. Denn an Touristen herrscht im
Unesco-Weltkulturerbe kein Mangel. Und so wie Venedig sich immer mehr zu
„Veniceland“ wandelt, das vor allem für Touristen betrieben wird, könnte
auch die Lagune umfassend künstlich gemanagt werden. Das schlägt zumindest
Georg Umgiesser vor, ein deutscher Hydrologe, der seit 30 Jahren für das
staatliche italienische Meeresforschungsinstitut Ismar die Lagune
erforscht, die so groß ist wie der Bodensee. „Wir müssen uns entscheiden:
Venedig zu retten oder die Lagune“, sagt Umgiesser. Die Lagune retten
hieße: freie Bahn für das Wasser. Das wäre der Untergang für Venedig. Die
Stadt zu bewahren, müsse auf lange Sicht aber heißen: die Verbindung zum
Meer zu schließen. Das wäre das Ende der jetzigen Lagune, die vom Austausch
zwischen Salz- und Süßwasser lebt.
Umgiessers Institut ist gerade umgezogen ins alte Arsenal der Stadt. Die
„verbotene Stadt“, nicht weit von Cacciaris Kulturzentrum, war einmal die
Waffenkammer der Seestreitmacht Venedig. Hier wurden die gefürchteten
Kriegsgaleeren am Fließband gebaut, vor Umgiessers Büro erinnert ein Wappen
von 1530 an diese stolze Tradition. Morsche Kräne ragen über rot-weiße
Backsteindocks voller eleganter Säulengänge. Die alten Montagehallen werden
liebevoll restauriert, hier sollen die Kompetenzen Venedigs für
Meeresforschung gebündelt werden. Auch das Management von Mose.
## Überholte Daten
Für Umgiesser ein Prestigeprojekt. Und Geldverschwendung. Im besten Fall
ein Strohhalm, an den sich die Stadt klammert. „Die Planungen beruhen auf
Daten von 1999“, zeigt er in einer Präsentation. Mose ist ausgelegt für 60
Zentimeter Meeresspiegelanstieg bis 2100. Heute rechnen die Wissenschaftler
mit dem doppelten Wert. Und schon bei nur 50 Zentimeter höherem
Meerespiegel müsste Mose an 300 Tagen geschlossen bleiben, hat Umgiesser
kalkuliert. „Das ist eigentlich unmöglich, dafür ist Mose nicht
konzipiert.“ Ohne Ebbe und Flut fehle die Müllabfuhr für die Lagune: Der
Dreck aus den Industrieanlagen und die Abwässer der Schiffe blieben im
Wasser. „Und vor allem müssten wir ernsthaft darüber nachdenken, eine
ordentliche Kanalisation zu bauen“, mahnt der Meeresforscher. Wenn man es
langsam mache, könnten sich auch Tiere und Pflanzen anpassen, wenn aus der
offenen Lagune ein Süßwassersee werde. Mose könne der Stadt Zeit kaufen,
vielleicht 20 oder 30 Jahre, um diese Fragen zu entscheiden.
Bisher ist von offener Debatte wenig zu spüren. Im November 2011 hatte die
Unesco zu einer internationalen Tagung über die Zukunft Venedigs in die
Stadt geladen. Es sollte auch um Mose gehen. Zwei Wochen vorher wurde die
Konferenz abgesagt. „Höhere Gewalt“, hieß es von der Unesco. Hinter den
Kulissen hieß es, das Konsortium habe interveniert. Kulturchef der Unesco
in Paris ist Francesco Bandarin – sechs Jahre lang an der Spitze des
Consorzio Venezia Nuova.
23 May 2012
## LINKS
[1] /fileadmin/static/pdf/2012-05-22_grafik_venedig.pdf
## AUTOREN
Bernhard Pötter
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