# taz.de -- Pipilotti-Rist-Schau in Mannheim: Fest der Mehrdeutigkeit | |
> Die Kunsthalle Mannheim zeigt eine überwältigende Schau mit Werken der | |
> Schweizer Videokünstlerin Pipilotti Rist als sinnliches Durcheinander. | |
Bild: Unvergesslich: Pipilotti Rist, Ever Is Over All, 1997 | |
Da fühlt man sich wie ein Kind. Fläzt sich auf den dicken Teppichboden, | |
kuschelt sich an die voluminösen länglichen Kissen, robbt sich mit den | |
Augen ganz weit in den Film hinein. Lässt sich gerne überwältigen von den | |
drei riesigen Leinwänden, rechts und links und vorne. | |
Lässt sich hineinfallen in das sinnliche, schmatzende Rot, fliegt mit der | |
Kamera durch die farbstrotzenden, saftigen Blumenfelder, staunt in | |
geschrumpfter Winzigkeit über die riesigen Regenwürmer, die die | |
gigantischen Hände aus der Erde geschaufelt haben, erschrickt vor den | |
Hautporen. | |
Es ist eine überwältigende Schau, die Pipilotti Rist selbst in der | |
Mannheimer Kunsthalle mit 31 Werken zu einer choreografierten Landschaft | |
komponiert hat. Die Räume in ein Sinnenerfahrungsfeld verwandelt, mit | |
farbigen Durchgängen, die manchmal wie Wände sind, mit Verdunkelungen und | |
geheimnisvollen Höhlen. „Augapfelmassage“ ist der Titel, und man hat | |
wirklich das Gefühl, dass sie massiert werden, bis man wieder sehen gelernt | |
hat. Dass man klein wird wie ein Kind und mit großen Augen die Welt ganz | |
neu aufnimmt. | |
Dabei erzählt die große dreiteilige Videoprojektion „Lungenflügel“, die | |
einen ganzen Saal einnimmt, keine Geschichte: Es ist ein sinnliches | |
Durcheinander, hinter- und übereinander geschnittene, sich überlagernde | |
Szenen, in denen man eine Frau mit langen Haaren unter Wasser sieht, ein | |
Schweinchen, das knackig rotes Fallobst frisst, Hände, die in der saftig | |
braunen Erde wühlen und Würmer liebevoll vom Dreck befreien, Baumrinden, | |
die liebkost werden, nackte Füße, die durch den Matsch laufen. | |
## Die Augen massieren | |
Dabei ist es keine romantische Zurück-zur-Natur-Pose, denn Rist spart die | |
Verstörungen und Zerstörungen nicht aus, nicht den Reifen, der treckernd | |
durch den Acker pflügt, auch nicht die Plastikabfälle, scharfkantige | |
flachgedrückte Dosen und weggeworfenes Obst. Schon dass die Würmer aus der | |
Erde genommen werden, hat etwas leicht Bedrohliches. Wie ein übermächtiger | |
und gnadenloser Gott agiert der Mensch, indem er in die Natur eingreift und | |
sie aus dem Zusammenhang löst. | |
Aber einfach und eindeutig festlegbar sind die ausgefeilten | |
Videoinstallationen der Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist nicht. Wie das | |
wandfüllende Video „Ever is over all“, in dem eine Frau in einem | |
schwingenden blauen Sommerkleid fröhlich an Autos vorbeiläuft, in der Hand | |
eine riesige Fackellilie, und ab und zu mit einem kindlichen Lachen die | |
Lilie in zersplitternde Autofenster schmettert. Einmal kommt eine | |
Polizistin auf sie zu und nickt ihr zu. Eine Hommage an ihre | |
Namenspatronin, die starke Pippi Langstrumpf? Ein Lob der Destruktion der | |
unmenschlichen, aber doch von Menschen geschaffenen Technik? Ein | |
feministischer Kommentar? | |
Schon das ist nicht ganz klar und würde die Mehrdeutigkeit beschneiden. Und | |
was hat dann der zweite Teil dazu zu sagen, eine ebenso wandfüllende | |
Projektion von Hunderten von Fackellilien in betörender Nahaufnahme, die am | |
Rand immer wieder in den Autosplatterfilm hineingreifen und überlappen? Und | |
die drei übereinander gelegten Teppiche, die Rist extra für die Mannheimer | |
Ausstellung hingelegt hat und die den Film zur Installation machen? | |
## Bitte keine Interpretation | |
Nein, einfach zu interpretieren sind ihre Arbeiten nicht. Aber eines sind | |
sie ganz sicher: sinnlich und ergreifend. Sie greifen nach dem Betrachter, | |
lassen ihn zu seinen Sinnen und seinen Gefühlen kommen, oft über | |
Assoziationen, wie es Rist in „Vorstadthirn“ vormacht, wo sie während einer | |
Autofahrt in Schweizerdeutsch (mit englischen Untertiteln) über die eigene | |
Kindheit spricht. Auf dem Boden hat sie ein Vorstadthaus aufgebaut, mit | |
Gartenmöbeln, einem kleinen Holzstoß, bereit zur Zerkleinerung, und in | |
einem Fenster sieht man Alltagsszenen mit Kindern, ein Geburtstagsfest, | |
Spiele. | |
Auch hier verändert sich der Betrachter, wird riesig, schaut von oben auf | |
Szenen, die an die eigene Kindheit erinnern, und merkt plötzlich ganz | |
körperlich, dass er dem entwachsen ist, dass er sich ihr nicht mehr nähern | |
kann. Und in der kleinen Arbeit „Porque te vas? (nass)“ nähert sich Rist | |
vorsichtig der Kindheit, indem sie auf einem winzigen LCD-Bildschirm, der | |
auf einem kleinen nachgebauten Wäscheständer liegt, Kinder zeigt, die in | |
einem leeren Planschbecken spielen und hin und her laufen. Das | |
Abspielgerät, das danebenliegt, ist nicht in einem Gehäuse versteckt, | |
sondern zeigt sein Innenleben mit allen Chips und Leitungen. Seine Technik | |
und Funktionsweise, die wir meist doch nicht verstehen, liegt jetzt | |
plötzlich so verletzlich vor einem wie eine offene Wunde. | |
Ein anderes Thema von ihr ist die körperliche Innenwelt, die sie nach außen | |
stülpt. Sei es, dass ihr Mund sich öffnet und eine Kamera verschlingt und | |
am „anderen Ende“ wieder herausfährt, oder dass sie, wie in „Eindrücke | |
verdauen“, ein rundes TV-Gerät in einen Badeanzug hängt und man gemütlich | |
einer Magenendoskopiefahrt zuschauen kann – eine ironische Untersuchung | |
dessen, was alles in einem steckt, und ein hintersinniger Kommentar zu dem | |
alten Slogan „Mein Bauch gehört mir“. | |
Rists Werke schwingen zwischen unschuldigem oder hintersinnigem Spaß und | |
intellektuellem Ernst, sie wollen die Welt erfahrbar machen, aber auch | |
gedanklich durchdringen, sie spielen mit dem Innen und Außen, den | |
Körperöffnungen und dem Sichzurückziehen, sind offen und geheimnisvoll, | |
stimmungs- und gedankenvoll, rauschhaft und kühl zugleich. | |
## Kunsthalle Mannheim. Bis 24. Juni. Katalog, Prestel, 19,90 Euro | |
30 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Georg Patzer | |
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