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# taz.de -- Orhan Pamuk an der Humboldt-Universität: Seine Majestät, Orhan I.
> Der Literaturnobelpreisträger spricht in Berlin über naives und
> sentimentales Schreiben. Dabei macht er deutlich: In der
> Gegenwartsliteratur kennt Pamuk nur Pamuk.
Bild: Der einzige Romancier der Türkei. Und der einzige lebende der Welt. Orha…
Eigentlich soll das Audimax der Humboldt-Universität von protestierenden
Studenten besetzt sein. Doch davon künden an diesem Donnerstagabend nur
Transparente, darunter eins am Rednerpult mit der Aufschrift
"Demokratisierung". Orhan Pamuks Thema ist heute ein anderes: "Was
geschieht mit uns, wenn wir Romane lesen?"
Eine Stunde lang redet der Literaturnobelpreisträger im überfüllten Saal
und lässt die anschließenden Fragen des New Yorker
Literaturwissenschaftlers Andreas Huyssen mit Routine abperlen, ehe dem
Publikum das Wort erteilt wird. Für gewöhnlich dauert es bei derlei
Gelegenheiten nicht lange, bis jemand wissen will, ob die Türkei reif für
die EU ist, wie gut sich Islam und Demokratie vertrügen. Orhan Pamuk kennt
die Spielregeln.
## Wallace? Bolaño? Wer?
Dass ihn HU-Präsident Christoph Markschies, der für diese "Mosse-Lecture"
seine Rektorenkette umgelegt hat, als "lebenden Beweis dafür, dass die
Türkei zu Europa gehört", begrüßt, lässt er unkommentiert. Jetzt aber wür…
er darauf bestehen, Künstler und kein politischer Repräsentant zu sein. Das
an postkolonialer Theorie geschulte Publikum fragt Pamuk, der zuvor betont
hat, heute noch Romane zu lesen, was er von Wallace und Bolaño halte. Damit
hat Pamuk nicht gerechnet. "Warum fragen Sie mich nach denen?", stottert
er. Dann fällt ihm ein: "Ich weiß, dass beide jung verstorben sind." Das
Publikum ist ehrerbietig genug, dies durchgehen zu lassen.
Pamuk ist innig vertraut mit den Klassikern – sein Vortrag ist an Schillers
Essay "Über naive und sentimentalische Dichtung" orientiert und voller
Verweise auf Tolstoi, Joyce oder Stendhal. In der Gegenwart aber scheint er
nur einen Literaten zu schätzen: sich selbst. Seine Referenzen enden denn
auch mit Borges und Calvino. Befremdlich ist das, weil Pamuk auch als
Literaturtheoretiker auftritt und fast alle seiner Werke mit literarischen
Reflexionen und Anspielungen gespickt sind.
So entbehrt es nicht einer gewissen Selbstironie, wenn er unter den neun
Punkten, die er zur Beantwortung seiner Fragestellung aufführt – darunter
"die Transformation von Worten in Bilder" und "das Treffen moralischer
Urteile – auch den "Distinktionsgewinn" nennt: "Wir lesen Joyce, weil es
uns gefällt, Joyce zu lesen."
## Ich, ich, ich!
"In der Türkei gibt es heute außer mir keinen Romancier," sagte Pamuk im
Jahr 2005 nach der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
in einem Interview – vergessend, dass Yasar Kemal acht Jahre zuvor dieselbe
Auszeichnung erhalten hatte. Dieses ständige, exponentiell zu seinem Erfolg
gewachsene Ich-Ich-Ich ist es auch, das ihm viele Intellektuelle in der
Türkei nachtragen.
Dabei gehört es zur Inszenierung, konkrete Auskünfte über seine Bücher zu
vermeiden. Als Huyssen, die These aufgreifend, jeder Roman besitze ein
"heimliches Zentrum", wissen will, wo das "Zentrum" in Pamuks letztem Roman
"Das Museum der Unschuld" liege, lautet die Antwort: "Selbst wenn ich es
wüsste, würde ich es nicht sagen." Und wie er dazu komme, auf höchst
außergewöhnliche Weise die Grenzen zwischen Fiktion und Realität zu
überschreiten und das im Roman antizipierte Museum tatsächlich zu
errichten? "Ich weiß es nicht", antwortet Pamuk lächelnd.
Und wieder ist das Publikum nachsichtig. Denn einen Schriftsteller, der
nicht nur nationalistischem Hass ausgesetzt ist, sondern auch derart
beflissen über die abendländische Kultur zu dozieren weiß, dass jeder
Oberstudienrat glaubt, sich geschmeichelt fühlen zu dürfen ("Pamuk ist der
Westen, sofern damit Freiheit, Autonomie und Menschlichkeit gemeint ist",
hat Frank Schirrmacher einmal geschrieben), fragt man nicht, ob "Museum der
Eitelkeit" denn nicht passender für sein jüngstes Unterfangen wäre.
16 Jan 2010
## AUTOREN
Deniz Yücel
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