# taz.de -- Urlaub im Kloster: Ist Gott Mönch? | |
> Allein wegen der Auffassung vom Miteinander lohnt sich der Aufenthalt bei | |
> den Benediktinern in Gerleve. Das Kloster ist ein Uterus, der schützt. | |
Bild: Das Benediktinerkloster in Gerleve. | |
Die Türme sieht man zuerst. Wuchtig ragen sie auf in der hügeligen | |
Landschaft der Baumberge, bezeichnen den Ort des Benediktinerklosters, an | |
dem man sonst leicht vorbeiführe, so allein liegt es da, bewusst Abstand | |
haltend zu Dorf und Stadt. Oberhalb, an der Straße von Coesfeld nach | |
Billerbeck, erinnert ein Gedenkstein an den ersten Bischof von Münster, den | |
heiligen Liudger (um 742–809), der an dieser Stelle das Land segnete und | |
damit den Grund, auf dem Kloster Gerleve knapp 1.100 Jahre später erbaut | |
wurde. | |
Der erste Gang nach der Ankunft führt in die Kirche. Ihre klare, reine | |
Romanik ist perfekt, weil sie kaum mehr als hundert Jahre zählt und kein | |
Umbau, keine Zerstörung die ursprüngliche Formensprache veränderte. Diese | |
an frühmittelalterliche Klöster erinnernde neoromanische Architektur im | |
Stile des Historismus prägt die gesamte Anlage. | |
## Spartanisch, aber geschützt | |
Rechts vom Eingang der Kirche liegt die Klosterpforte, wo der Ankömmling | |
dem ersten Mönch begegnet. Während der Gast seine Zelle sucht – es gibt nur | |
zehn und sie sind ausschließlich für männliche Gäste reserviert –, fällt | |
sein Blick auf die Namen seiner Mitbewohner auf Zeit, die auf dezent neben | |
den Türen angebrachten Schildchen stehen. Bruder Matthäus, der für die | |
Betreuung der Gäste zuständig ist, spricht nicht von Zellen – „Wir sind | |
doch kein Gefängnis!“ –, sondern zu Recht von Zimmern. Die Räume sind wed… | |
zu groß noch zu klein mit Dusche, Toilette und Einbauschrank, Bett, | |
Schreibtisch, Stuhl und Sessel, einer Leselampe. Kein Fernseher, kein | |
Internet und wegen der dicken Mauern kaum Handyempfang. | |
Für den Gast ist Gerleve wie ein Uterus, der schützt und nährt. Die | |
Außenreize sinken gegen null. Egal, was man ins Kloster mitgebracht hat, | |
ein Problem, über das man in Ruhe nachdenken möchte, eine Weichenstellung | |
des Lebens, die es vorzunehmen gilt: Hier finden sich Raum und Zeit. Und | |
Stille. Und niemand drängt. Noch besser: Es drängt sich niemand auf. | |
„Einfach nur da sein dürfen“, schrieb ein Besucher ins Gästebuch. | |
## Zwang zum Stundengebet gibt es nicht | |
Wie ein Uhrwerk und völlig losgelöst von den Gästen geht das mönchische | |
Leben Tag für Tag seinen geregelten Gang. Zwanzig nach fünf versammeln sich | |
die Mönche zu den Vigilien und Laudes in der Abteikirche, um neun folgt die | |
Messe, um zwölf Uhr mittags die Sext, zwei Stunden später die Non, um halb | |
sechs die Vesper, Viertel nach acht beschließt die Komplet den Tag. Gerleve | |
pflegt den gregorianischen Gesang, der bis ins 6. Jahrhundert zurückreicht. | |
Der Forderung, man müsse im Hier und Heute leben, ist das Kloster immer | |
schon nachgekommen. Der Rhythmus der Stundengebete feiert täglich das | |
Geschenk des Daseins. Begreift man das erste am Morgen als Auferstehung und | |
das letzte am Abend als Loslassen, ist es ein Versuch, in der Gegenwart zu | |
leben und dem Tod als Freund zu begegnen. | |
In früheren Zeiten riss eine schnarrende Klingel um fünf Uhr morgens auch | |
die Gäste aus dem Schlaf. Das ist Vergangenheit. Einen Zwang, zu den | |
Stundengebeten oder zur Messe zu erscheinen, gibt es nicht. Doch wenn man | |
liest, schreibt oder denkt, ist eine Pause eine willkommene Unterbrechung. | |
Fast alle Gebete und die werktägliche Messe dauern in der Regel nie mehr | |
als eine Viertel- oder höchstens eine halbe Stunde. | |
## Beim Essen bleibt keiner allein | |
Mittag- und Abendessen werden zusammen mit den Mönchen eingenommen. Das mit | |
Eichenholz getäfelte Refektorium hat die Ausmaße eines Rittersaales. An den | |
Wänden entlang stehen wuchtige Tische, hinter denen die Mönche mit dem | |
Rücken zur Wand Platz nehmen. In der Mitte dieses Hufeisens und damit von | |
drei Seiten von Mönchen eingeschlossen und von ihnen „beobachtet“, steht | |
der Gästetisch. Aus Fürsorge. „Alle Gäste sollen aufgenommen werden wie | |
Christus“, lautet die Regel benediktinischer Gastfreundschaft. Die Mahlzeit | |
verläuft schweigend. Nach dem Tischgebet beginnt auf ein Zeichen des Abtes | |
der Vorleser mit der Tischlektüre. | |
Das kann eine Biografie, ein geschichtliches oder religiöses Werk sein, von | |
Pater Daniel, Theologe und Bibliothekar, aus aktuellem Anlass ausgewählt. | |
Das Schweigen ist keinesfalls unangenehm. Viel bewusster widmet man sich | |
dem Essen. Für Pater Marcel, den Historiker des Klosters, hat jede Mahlzeit | |
eine spirituelle Komponente: „Jesus Christus liebt es, mit Freunden zu | |
Tisch zu sitzen. Bei Tisch bleibt keiner hungrig zurück, bei Tisch bleibt | |
keiner allein.“ | |
Gerleve ist Kultur- und Wirtschaftsbetrieb zugleich. Die Mönche betreiben | |
ein Seminarhaus für Erwachsene, eine Jugendbildungsstätte und eine | |
Buchhandlung, organisieren Vortragsreihen und Konzerte und geben eine | |
eigene Zeitschrift heraus. Jeder verfügt über eine abgeschlossene | |
Berufsausbildung. Viele haben sich zusätzlich qualifiziert. Das Spektrum | |
reicht vom Krankenpfleger bis zum Hochschullehrer. Spezialisten für | |
Kirchengeschichte sind genauso darunter wie Paartherapeuten, Historiker, | |
Musiker, ein Ikonenmaler oder ein ehemaliger Banker. Mehr als die Hälfte | |
haben akademische Abschlüsse und sind geweihte Priester. | |
## Wer zweifelt bleibe draußen | |
Da es im Christentum, anders als beispielsweise in den Klöstern Asiens, | |
kein Mönchtum auf Zeit gibt, ist nach einer vier- bis fünfjährigen Phase | |
der Selbstprüfung die dann abgelegte „ewige Profess“, die Verpflichtung zu | |
lebenslangem Mönchtum, theoretisch unwiderruflich. In der Praxis kann | |
natürlich niemand gezwungen werden, im Kloster zu bleiben. Aber: „Wer | |
zweifelt“, sagt Pater Heinrich, der Novizenmeister, „bleibe lieber | |
draußen.“ Und schon gar nicht, weiß er aus Erfahrung, funktioniert die | |
Flucht ins Kloster als Rückzugsort vor den eigenen Problemen. Die | |
verstärkten sich dort nur. Von Werbung zur Nachwuchsförderung hielt schon | |
der heilige Benedikt nichts: Schwer machen solle man es den Novizen, erst | |
dann sei man sicher, dass nicht eine Laune, sondern göttliche Berufung zum | |
mönchischen Dasein leite. Davon sind die Mönche von Gerleve überzeugt: Man | |
muss wollen. | |
Mit seinen über vierzig Mönchen, der jüngste Anfang dreißig, der älteste 87 | |
Jahre alt, ist in Gerleve noch eine Lebensform lebendig, die den wohl | |
größten denkbaren Gegensatz zur modernen Lebenswelt darstellt. Wie kann | |
jemand auf die Vorzüge individueller Freiheit verzichten wollen, um | |
stattdessen die im Mönchsgelübde beschworenen Verpflichtungen des Gehorsams | |
gegenüber dem Abt, der persönlichen Armut, der Keuschheit, dazu noch der | |
„stabilitas“, die den Benediktiner auf das einmal gewählte Kloster | |
„lebenslänglich“ festlegt, freiwillig einzuhalten? | |
Wäre Gerleve ein indischer Aschram oder ein buddhistisches Kloster, ließe | |
sich das Mönchsein leichter erklären. Der von Buddha begangene achtfache | |
Pfad zur Erleuchtung wird heute selbstverständlicher akzeptiert als das | |
christliche Programm, Gott zu suchen in allen Dingen. Dabei läuft es in | |
beiden Fällen auf das Gleiche hinaus: Der Mönch entscheidet sich für den | |
Weg einer spirituellen Entwicklung – und die braucht Zeit. „Schritt für | |
Schritt in Demut lernen von sich abzusehen, den anderen zu dienen und | |
dadurch innerlich frei zu werden“, charakterisiert Pater Robert, der | |
Stellvertreter des Abtes, diesen Prozess. | |
## Der Anspruch auf Respekt und Achtsamkeit | |
Wie das immer wieder variierte musikalische Grundmotiv einer Symphonie | |
wächst mit den Jahren aus der Gottsuche die Erkenntnis: Du bist geliebt von | |
Gott, du kannst ihm vertrauen. In seinem Glauben geborgen, darf der Mönch | |
darauf hoffen, dass es am Ende mit Welt und Menschheit gut ausgehen wird. | |
Nicht nach Verzicht klingt das, sondern nach einer bewusst gewählten | |
Alternative zum normalen Leben. Wie stets ist es eine Frage der | |
Perspektive. „Mönchisches Leben und Lebensfreude“, zeigt sich Abt | |
Laurentius überzeugt, „schließen sich nicht aus.“ | |
„Letztlich“, sagt Pater Marcel, „ist nicht die Frage entscheidend, warum | |
man eintritt, denn dann steht man ja erst am Anfang, sondern warum man | |
bleibt.“ Seine Antwort ist klar. Gerleve ist für ihn ein Ort der Freiheit. | |
Der Freiheit, sich Zeit zu nehmen, den anderen Zeit zu lassen. „Eine Schule | |
im Dienste des Herrn, die mich fordert und in der ich jeden Tag Neues über | |
meine Mitmenschen, über mich selbst und über Gott lerne.“ Beispielsweise, | |
wie geduldig er ist. Und wie viel Zeit er hat. Ist Gott Mönch? | |
Trotz des gemeinsamen Ziels bestimmt eine freundliche Distanz die | |
Beziehungen untereinander. Die Mitbrüder, verschieden in Herkunft, Bildung | |
und Glaubensüberzeugungen, sind nicht als Sympathiegruppe definiert, | |
sondern als Gemeinschaft von Gleichen, die Anspruch auf gegenseitigen | |
Respekt haben. | |
„Manchmal“, räumt Pater Robert ein, „ist es nicht leicht, zu erkennen, d… | |
die Charakterschwächen des anderen oft auch seine Stärken sind.“ Jeder | |
Mensch, sagt Benedikt in der Regel, hat sein eigenes Maß. Gerade der Abt | |
müsse der Eigenart jedes Einzelnen dienen, wenn er Vorbild sein wolle. | |
Allein um dieser Auffassung vom menschlichen Miteinander zu begegnen, lohnt | |
sich die Fahrt nach Gerleve. Wertschätzung zu erfahren und zu zeigen, | |
achtsam miteinander umzugehen, sind fundamentale Prinzipien des | |
Zusammenlebens und -arbeitens diesseits und jenseits von Klostermauern. | |
2 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Ralf-Peter Märtin | |
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