# taz.de -- Kolumne Back on the Scene: Liebe aus tausendundeiner Kehle | |
> Als Georgette Dee, die noch lebt und singt, mit der Fanmeile am | |
> Tiergarten im Chor sang und ich fast glaubte, dazuzugehören. Fast. | |
Man kann auch mal einfach nicht Fußball gucken. Und zwar so, dass es | |
einfach nichts bedeutet. Ein Nichtgucken, das weder als politischer Protest | |
gemeint ist noch als Distanzierung von den „Massen“ oder gar als Ausdruck | |
einer gesondert nobilierten Geisteshaltung. Ein Nichtgucken vielmehr, das | |
einfach damit zu tun hat, dass man etwas Besseres vorhat. | |
Wenn sich nämlich die Diseuse Georgette Dee aufrafft, doch mal wieder ein | |
Konzert zu geben – nur ein einziges –, dann muss man auch hingehen. Ins | |
Tipi, dem großen Zirkuszelt neben dem gigantischen Kanzleramt in Berlins | |
Mitte, das vor genau zehn Jahren der „Kleinkunst“ wegen aufgespannt wurde. | |
„Ich bin nicht jeden Tag dein Sonnenschein, dann lieber gar nicht“, singt | |
Georgette Dee einen ihrer heiter-melancholischen Klassiker, und es ist | |
alles wie immer, allein es fehlen ihr volles Wodkaglas in der Hand und die | |
brennende Zigarette. Sie ist älter geworden und es steht ihr gut. Das Zelt | |
ist bis auf den letzten Platz ausverkauft an diesem EM-Abend, Deutschland | |
gegen Portugal, und alle sind froh, dass Georgette Dee noch lebt und singt. | |
Wann habe ich sie zum ersten Mal auf der Bühne gesehen? Es muss 15 Jahre | |
her sein, ungefähr. Das Kanzleramt gab es noch nicht, der Potsdamer Platz | |
war eine riesige Baustelle und das Wort „Public Viewing“ kannte kein | |
Mensch. | |
Georgette singt von der Unmöglichkeit der Liebe und der wunderbar | |
verschrobenen menschlichen Angewohnheit, doch an sie zu glauben. „Ich will | |
nicht morgen schon dein Gestern sein, dann lieber gar nicht“, und je mehr | |
ich ihr zuhöre, mich fallen lasse, desto mehr Wärme breitet sich in mir | |
aus. | |
Natürlich gibt es die Liebe. Natürlich lohnt es sich, immer wieder Mut zu | |
fassen und sich anschließend voll auf die Schnauze zu legen. Von der | |
Fanmeile am unweit gelegenen Brandenburger Tor ertönt der Backgroundchor | |
der Begeisterung, Tausende jubilieren, es steht 1:0 für Deutschland. Die | |
Wände des Zeltes vibrieren, drinnen wie draußen ist Energie, die nun | |
ineinanderfließt, statt sich in einem Gewitter zu entladen. | |
Der Nachhauseweg wird zum Sommermärchen. Die Luft ist noch immer warm und | |
erfüllt von fröhlichem Getröte und „Deutschland“-Rufen, die nicht wie | |
Marschstiefel klingen, sondern eher wie Flipflops. Junges Volk, in Fahnen | |
gehüllt und mit schwarz-rot-goldener Gesichtsbemalung ist auf dem Weg von | |
der Fanmeile zum Hauptbahnhof. Ich gehe einfach mit, werde Teil der großen, | |
weltweiten Fußballverschwörung. Niemand weiß ja, dass ich den Abend mit | |
Liebesliedern verbracht habe, es ist auch egal, denn gute Laune haben wir | |
alle. Deutschland hat gewonnen, die Liebe gibt es doch, und der Ball ist | |
rund. | |
Sogar der Berliner Hauptbahnhof wirkt heute nicht überdimensioniert und | |
klotzig. Er leuchtet vielmehr anmutig und ist gerade groß genug für die | |
strömenden Massen. Dicht an dicht drängt sich das Volk und riecht nicht | |
nach Schweiß und Aggression, sondern nach Weichspüler und Sommernacht. | |
Berlin, Berlin, wir fahren durch Berlin! Was für eine Sause, und dann | |
geht’s richtig los. „Du Schwuchtel.“ „Du bist ja ein 1-a-Homo“, quill… | |
plötzlich aus Männermündern. Wie immer zucke ich zusammen, obwohl ich gar | |
nicht gemeint bin. Es geht ja nur darum, Kumpels freundschaftlich | |
runterzumachen, indem man sie mit einem abwertenden Begriff belegt. | |
Nach Hause gehe ich alleine. | |
10 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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