# taz.de -- Die Wahrheit: Das glühende Auge des Zyklopen | |
> Wir haben uns daran gewöhnt, das Haus verlassen zu können, ohne | |
> aufgefressen zu werden. | |
Wir haben uns daran gewöhnt, das Haus verlassen zu können, ohne | |
aufgefressen zu werden. Spielten unsere Vorfahren noch mit ihrem Leben, | |
sobald sie es wagten, unbewaffnet das Altpapier runterzubringen, lassen wir | |
den Bärentöter längst im Wandschrank stehen, denn das Risiko, dass hinter | |
dem Müllcontainer ein Säbelzahntiger lauert, ist heutzutage sehr gering. | |
Noch immer aber gibt es Enklaven des Dschungels in unseren Städten. | |
Gegenden, in denen wir Menschen uns plötzlich wieder am anderen Ende der | |
Nahrungskette befinden. Zu diesen Gebieten gehört die Terrasse von Beate | |
und Luis, denn nachts gehen dort grässliche, blutdurstige Wesen auf die | |
Jagd. | |
Noch am Abend ihres Einzugs vernahmen die beiden draußen erstmals ein | |
lautes Schmatzen. „Was ist das?“, flüsterte Beate. „Vielleicht ein Igel�… | |
sagte Luis, „Igel sollen sehr laut schmat …“ Ein markerschütterndes Fauc… | |
unterbrach ihn, und nach kurzer Debatte befanden sie, dass nur ein Jaguar | |
als Verursacher eines solchen Fauchens in Frage käme. | |
Indes war der Jaguar noch eins der harmlosesten Biester, die nachts über | |
die Terrasse pirschten. Das Knurren, das sie mitunter hörten, ließ | |
unweigerlich darauf schließen, dass im Dickicht der Brombeerhecke die | |
letzten Raptosaurier bis in unsere Zeit überlebt haben mussten. Auch das | |
heisere Keuchen des menschenfressenden Zyklopen Polyphem drang manchmal | |
durch die Nacht. Zu denken gab ihnen überdies der fischige Geruch, der | |
gelegentlich durch die Fensterritzen hereindrang: Irgendwo da draußen, das | |
stand fest, hauste ein der Tiefsee entfleuchter Riesenkrake, der nachts mit | |
suppentellergroßen Augen durch die erleuchteten Fenster starrte. | |
Mithin befürchtete Luis das Schlimmste, als er neulich von einem | |
Doppelkopfabend nach Hause kam. Beate hatte an diesem Abend Besuch von | |
ihrer alten Freundin Linda, doch zu Hause fand er nur eine leere, hell | |
erleuchte Wohnung vor. Die Terrassentür stand offen, und jäh wummerte ihm | |
das Herz bis zur Kehle: Er wusste, jetzt hatten die Monster zugeschlagen! | |
Mit schlotternden Knien trat er auf die Terrasse hinaus. „Mädels?“, | |
flüsterte er. In diesem Moment hörte er hinter sich ein Knistern: Er fuhr | |
herum – und blickte in Polyphems glühendes Auge! Er wollte schreien, doch | |
da ertönte ein dumpfes „Klops!“ und in seinem Kopf ging das Licht aus. | |
Als er wieder zu sich kam, blickten Beate und Linda ihn an. „Erkennst du | |
mich?“, fragte Beate. „Klar“, sagte er, und dann erfuhr er, dass er just … | |
jenem Augenblick heimgekommen sein musste, in dem Beate eine neue Flasche | |
Wein aus dem Keller holte. „Als ich mit dem Wein zurückkam, sah ich, dass | |
Linda trotz meiner Warnung rausgegangen war, um eine zu rauchen“, erzählte | |
Beate: „Aber im Schein ihrer Zigarette sah ich noch eine Gestalt. Es war, | |
kein Zweifel, ein Raptosaurus! Ich sprang hinaus, hob die Flasche und …“ – | |
„… und ’Klops!‘“, sagte Luis und staunte noch lange, wie täuschend �… | |
eine glühende Zigarette einem blutroten Zyklopenauge doch sieht. | |
20 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Joachim Schulz | |
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