# taz.de -- Biennale Wiesbaden: Italien wird zu Grabe getragen | |
> Da gehen die letzten Illusionen: Traurigkeit liegt über den neuen Dramen | |
> aus Italien, die auf dem Festival „Neue Stücke aus Europa“ in Wiesbaden | |
> und Mainz vorgestellt wurden. | |
Bild: Szene aus „Grimmless“. | |
Der Eröffnungsabend des Festivals „Neue Stücke aus Europa“ gehörte den in | |
Rom lebenden Theatermachern Stefano Ricci und Gianni Forte, die bekannt | |
sind für ihre vierhändigen bunten Theatercollagen. „Grimmless“, das die | |
Abwesenheit der Brüder Grimm im Titel trägt, entführt die Zuschauer in eine | |
schreiende Wirklichkeit. | |
Trockennebel wallt über die Bühne der Wiesbadener Wartburg, in Noppenfolie | |
verpackte Kronleuchter erzählen von feudaleren Zeiten, von der Seite gleißt | |
helles Licht. Fünf Akteure spielen bunte Zeitgenossen, die smartiesfarbene | |
Rollkoffer hinter sich herziehen, als sei es ihr Leben. In einzelnen | |
Monologen entblößen sie ihre Ichs, die nur noch aus der Ferne an | |
Märchenfiguren erinnern. Versehrte Seelen in einer happyendlosen Welt. | |
Vor zwanzig Jahren wurde die Theaterbiennale „Neue Stücke aus Europa“ von | |
Manfred Beilharz und Tankred Dorst in Bonn gegründet, und zum elften Male | |
geht sie in diesen Tagen über die Bühnen von Wiesbaden und Mainz: Ihr Clou | |
ist ihr sogenanntes Patensystem – Dramatiker aus mittlerweile 41 Ländern | |
Europas halten nach Stücken Ausschau, die sie nach Deutschland schicken | |
möchten. | |
Für die Niederlande tut das etwa die wunderbare Judith Herzberg, in | |
Großbritannien sucht Mark Ravenhill, in Zypern Antonis Georgiou, in Serbien | |
Biljana Srbljanovic und in der Türkei Özen Yula. Hierzulande bekannte und | |
weniger bekannte Namen. Der italienische Pate heißt seit dem Jahr 2008 | |
Edoardo Erba. Gleich vier Stücke hat er für die diesjährige Ausgabe des | |
Festivals vorgeschlagen, zwei werden gezeigt. | |
## Sätze wie Lebensbeichten | |
In „Grimmless“ stoßen die Schauspieler ihre Sätze wie Lebensbeichten | |
hervor, mit der sie die Zuschauer überfallen, bis diese zurückweichen. Es | |
sind beklemmende Berichte aus einem zuversichtslosen Leben. Dabei | |
verkörpern sie viel weniger einzelne Figuren, das tun sie auch, als einen | |
Gesellschaftszustand, der an den Grenzen Italiens nicht endet und doch | |
symptomatisch für es ist. In den Zwischenszenen regiert aufgekratzte | |
Hysterie die Bühne: Ohrenbetäubende Musik, Pop und Schnulz, hat dann das | |
Sagen, dazu führen sich die Darsteller auf wie im italienischen Fernsehen | |
der Berlusconi-Ära, wackeln wild und sprühsahnegesättigt ins Spaßbad. | |
Der verknappte, kraftvoll und auch rhythmisch funktionierende Text dient | |
ihnen als gefährlich instabiles Gerüst, auf dem sie ihre waghalsigen | |
Turnübungen absolvieren. Dabei birst der 90 Minuten lange Abend vor Energie | |
und Todtraurigkeit, die sich in märchenhaften Bildern auslebt. Etwa wenn am | |
Ende eine der Schauspielerinnen schneewittchenhaft auf einem Teppich aus | |
Äpfeln gebettet daliegt und die anderen sie mit Bedacht über die Bühne | |
rollen. | |
Im Finale nimmt die Beklemmung überhand. Italien wird zu Grabe getragen, | |
gewaltiges Donnergrollen, das sich anhört, als stürze jeden Moment das Haus | |
zusammen, bricht über uns herein. Dazu stürmt Kunstschnee aus dem Himmel, | |
der die Bühne vollends in eine Märchenlandschaft verwandelt. Die | |
Schauspieler ziehen sich aus, schmieren sich golden an und künden als | |
glänzende Statuen von Zeitaltern, in denen das Wünschen womöglich noch | |
geholfen hat. Ein Requiem, das letzte Illusionen über das stiefelförmige | |
Land zu Grabe trägt. | |
## Das große Nichts | |
Ein Abschied steht auch im Mittelpunkt der zweiten Produktion aus Italien: | |
Der Dramatiker Fausto Paravidino erzählt in seinem autobiografischen | |
Dreipersonenstück „Mariapias Tagebuch“ vom Tod seiner krebskranken Mutter. | |
Monica Samassa verkörpert sie und muss dafür die längste Zeit des beinahe | |
zweistündigen Abends reglos im Stuhl verharren. Fausto Paravidino selbst | |
steht als ihr Sohn auf der Bühne und schlüpft noch in viele weitere Rollen, | |
ebenso Iris Fusetti. Mit Totenruhe begleiten sie die Mutter beim Sterben, | |
wachen an ihrer Seite und beginnen für sie Tagebuch zu schreiben: | |
Erinnerungen, die bleiben. Wenige. | |
Einige Zuschauer verlassen vorzeitig den Saal, viele sind erst gar nicht | |
gekommen. Deutschland kickt zur gleichen Zeit gegen Dänemark, und der Tod | |
ist für viele kein Thema. Ein Leben gerät an sein Ende, und vor uns breitet | |
sich bloß noch ein schwarzer Abgrund aus. Das ist von jeden von uns von | |
Belang, und doch zielt der Abend an uns vorbei, auch weil er sich so | |
quälend inszeniert. Die Kleinteiligkeit der Szenerie ruft zudem geradezu | |
nach einer Studiobühne. Im Kleinen Haus des Mainzer Staatstheaters verliert | |
sich diese Sterbestudie zu sehr. | |
Der Katalog spricht von einem neoplastischen Drama – und verweist damit auf | |
eine Kunstbewegung der äußerst reduzierten Formen. Die Aufführung wuchert | |
dabei mit ihrer konsequent ausgeführten Langeweile und unaufdringlichen | |
Wahrhaftigkeit. In jedem Fall ist es ein sehr zarter Abend über das große | |
Nichts, das uns zu verschlingen droht. | |
20 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Shirin Sojitrawalla | |
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