# taz.de -- Rumänischer Film „Aurora“: Geschichte mit Lücken | |
> Ein schwieriges Meisterwerk: „Aurora“ von Cristi Puiu erzählt davon, wie | |
> die rumänische Gesellschaft in ihre Einzelteile zerfällt – und vollzieht | |
> den Zerfall selbst filmisch nach. | |
Bild: Auf dem Weg durch die rumänische Gesellschaft der postkommunistischen Ge… | |
Es ist noch mitten in der Nacht, als in einem dunklen Raum in Rumänien ein | |
Mann und eine Frau aus dem Bett kriechen und mit ihren morgendlichen | |
Verrichtungen beginnen. Die Frau zieht ein Kleid an, der Mann setzt sich | |
mit einer Tasse an den Tisch. Während des Frühstücks erzählt die Frau, dass | |
die Tochter in der Schule über das Märchen „Rotkäppchen“ gesagt hätte: … | |
der Jäger die Großmutter aus dem Bauch des Wolfs holte, da musste sie doch | |
nackt sein.“ Warum? Weil der Wolf die Kleider der Großmutter trug. Der Mann | |
braucht eine ganze Weile, bis ihm dieses kleine Stück kindlicher Logik | |
einleuchtet. Es ist noch dunkel, man sieht ihm an, dass er lieber an andere | |
Dinge denken würde – oder vielleicht an gar nichts. | |
Es dauert dann noch beträchtliche Zeit, bis wir erfahren, wie der Mann | |
heißt (Viorel) und was es mit seinem Leben auf sich hat. Dass wir in | |
Rumänien sind, wissen wir eigentlich auch nur aufgrund der Vorinformationen | |
zu dem Film „Aurora“ von Cristi Puiu. Lange nicht mehr wurde im Kino derart | |
mit Informationen gegeizt, genauer müsste man wohl sagen: mit einer | |
bestimmten Form von Informationen, die es erlauben, sich jederzeit souverän | |
in einer Geschichte bewegen zu können. | |
Hier ist die Sache ganz anders. Hier bleibt nichts anderes übrig, als sich | |
mit Viorel auf einen verworrenen Weg durch die Stadt und damit durch die | |
rumänische Gesellschaft der postkommunistischen Gegenwart zu machen. Dass | |
der Regisseur selbst die Hauptrolle spielt, macht die Sache noch | |
selbstbezüglicher. Allmählich wird dann aber deutlicher, warum Viorel mit | |
einer Mischung aus Apathie und Grimm durch die Welt geht. | |
## Aus dem Ruder | |
Er lebt gerade in Scheidung (von einer anderen Frau, der er nun | |
hinterherspioniert, wenn sie morgens die gemeinsame Tochter aus dem Haus | |
bringt), er bewohnt ein Zimmer in einer großen Wohnung, die schon für die | |
Räumung renoviert wird. Seine Arbeit hat er auch verloren, in die Fabrik | |
geht er nur noch, um alte Schulden einzutreiben und um sich mit Munition | |
für ein altertümliches Gewehr zu versorgen. | |
„Aurora“ dauert drei Stunden, und im Verlauf dieser Zeit ändert sich nichts | |
an der kompromisslosen Prämisse des Films: dass es keinen all- oder auch | |
nur mehr wissenden Erzähler gibt, der die Lücken in der Geschichte | |
schließen würde. Dies widerspricht umso mehr traditionellen | |
Erwartungshaltungen, als schließlich ein Verbrechen geschieht und sich | |
damit die Frage nach Motiven und Zusammenhängen noch einmal verschärft. | |
Drei Menschen kommen ums Leben, sie stehen in einem ganz unterschiedlichen | |
Verhältnis zum Zentrum dieser Erzählung, sie werden entweder mit Bedacht | |
getroffen oder durch Zufall. | |
Sie sind eine repräsentative Menge für das narrative Prinzip dieses Films – | |
jedes Detail kann von Interesse sein oder auch nicht. Nach welchen | |
Kriterien? Die Antwort verweigert Puiu zugunsten eines allgemeineren | |
Verhältnisses: Im Zentrum des Bildes, das meist in der filmischen Gestalt | |
von Totalen organisiert ist, befindet sich der rätselhaft, ja aggressiv | |
introvertierte Viorel, den ganzen Rest macht die rumänische Gesellschaft | |
aus. Mit einem vergleichbaren Ansatz hat Cristi Puiu 2005 einen der großen | |
Erfolge des neueren rumänischen Kinos geschaffen. | |
In „Der Tod des Herr Lazarescu“ ging es darum, wie ein alter Mann akut | |
erkrankt und dann eine Nacht lang von einer Notaufnahme in die nächste | |
gefahren wird, bis das eintritt, was der Filmtitel schon als Ergebnis | |
verkündet hatte: Herr Lazarescu stirbt. Dieses spannende Protokoll eines | |
typischen Einzelfalls im Spannungsfeld zwischen Individuum und | |
Institutionen war deutlich auf eine modellhafte Untersuchung hin lesbar, wo | |
denn Rumänien auf seinem Weg der Modernisierung steht. | |
## Ästhetik der kühlen Betrachtung | |
Puiu und andere bekannte Kollegen wie Corneliu Porumboiu („Polizist, | |
Adjektiv“) oder Cristian Mungiu („Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage“) | |
teilen bei ihren filmischen Untersuchungen einen beobachtenden Gestus, der | |
das Publikum dazu anhält, die ohnehin schon höchst bewusst gestalteten | |
Bilder noch einmal zu „durchsuchen“ und ihnen so erst jenen Sinn zu geben, | |
den die Filmkünstler bewusst offenhalten. | |
So trifft sich ein neorealistischer Impuls mit klassischen Strategien der | |
Moderne, und auch abseits der genannten Namen entstehen in Rumänien derzeit | |
beachtliche Filme. Cristi Puiu hat mit dem schon 2009 gedrehten „Aurora“ | |
nun aber den markanten Stil zu einem Zeitpunkt an einen extremen Punkt | |
getrieben, an dem dieser zu einer Art Patentrezept für Festivalerfolg und | |
kritischen Zuspruch zu werden drohte. | |
## Grenze der Kommunikation | |
Inzwischen fällt es auch Beobachtern aus dem Mainstream auf, dass eine | |
Ästhetik des „detachments“, der kühlen Beobachtung, vielfach zu einer | |
Manier geworden ist, die gar nicht so aufschlussreich ist, wie sie sich auf | |
den ersten Blick den Anschein gibt. Puiu geht mit dieser Ästhetik nun einen | |
wesentlichen Schritt weiter hin zu einem Stil, der nicht mehr der | |
Dramaturgie eines Indizienprozesses gehorcht, sondern den Regisseur selbst | |
stärker in die Sache verstrickt – und nicht nur deswegen, weil er | |
ausnahmsweise selbst die Hauptrolle übernimmt. „Aurora“ ist als Kritik der | |
souverän auktorialen Erzählpositionen lesbar, die das Normstilmittel des | |
Festivalkinos von Michael Haneke bis Nuri Bilge Ceylan geworden ist. | |
Der Weg von Viorel führt nicht nur an einen moralischen Wendepunkt, in dem | |
sich die Probleme Rumäniens zu kristallisieren scheinen, er führt auch an | |
die Grenze jener Kommunikation, die den pathologischen Einzelgänger von | |
einem noch ansprechbaren Bürger trennt. „Aurora“ erzählt also davon, wie | |
eine Gesellschaft zerfällt, und vollzieht diesen Zerfall auch gleich selbst | |
filmisch nach, in einem schwierigen Meisterwerk, das unbedingt die Mühe | |
lohnt. | |
## „Aurora“. Regie: Cristi Puiu. Mit Cristi Puiu, Clara Voda u. a. Rumänien | |
2009, 181 Min. Ab Donnerstag, 21. Juni, im Berliner fsk-Kino, ab 30. August | |
auch in München | |
21 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Bert Rebhandl | |
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