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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Sinisierung der Architektur
> Immer wieder ist auch in Teilen der hiesigen Presse von der chinesischen
> Kultur die Rede, die so ganz anders sei als die Kultur des Westens.
Immer wieder ist auch in Teilen der hiesigen Presse von der chinesischen
Kultur die Rede, die so ganz anders sei als die Kultur des Westens. Für die
Vergangenheit mag das gelten. Aber für die Gegenwart? Betrachtet man zum
Beispiel die Architektur moderner chinesischer Städte, stellt man im
Vergleich zur Architektur des Westens keinen Unterschied fest, zumindest
auf den ersten Blick. Schaut man etwas genauer hin und vor allem etwas
länger, sieht das schon anders aus. Dann bemerkt man nämlich, dass im
Westen ein Gebäude normalerweise auch so bleibt, wie es der Architekt
entworfen hat, während es sich in China auch nach der eigentlichen
Fertigstellung verändert.
Ein Hochhaus in meiner Nachbarschaft hat eine solche Metamorphose
durchlaufen. Anfangs sah es noch so aus, als käme es direkt vom
Postbauhaus-Architektur-Fließband: Ein senkrecht stehender Schuhkarton mit
einer schlichten, schwarzen Kunstmarmorfassade, von großen Glasfronten
durchbrochen. Doch nachdem die ersten Mieter eingezogen waren, begann es zu
sinisieren. Als Erstes kamen mächtige Leuchtschriftzeichen aufs Dach. Dann
wurde ein gläserner Aufzug an die Seite gepappt, um ein Restaurant im
fünften Stock direkt erreichen zu können.
Damit war der Damm gebrochen. Bald klebte man weite Teile der Glasfronten
mit blickdichter Folie ab, um Werbung für Geschäfte und Restaurants
draufzuschreiben. Obendrein wurde ein ganzes Stockwerk mit roten
Kunststoffplatten verkleidet, auf denen seitdem der Name eines Restaurants
und riesige Plastikblumen prangen. Die schlichten Glastüren ersetzte man
durch eine elektrisch betriebene Drehtür, in der goldfarbene
Strohblumengebinde mitrotieren. Auch der Eingang zu einem Club erschien dem
Betreiber offensichtlich zu schlicht. So ließ er ihn um einen irgendwie
gotischen Torbogen aus roten Klinkersteinen ergänzen.
Vor das Haus wurden von innen illuminierte Pylone mit Werbung gestellt. Und
auch im Inneren hat sich das Gebäude verändert. Hier hat man in die
geräumige Eingangshalle einen Glaspavillon gehämmert, in dem jetzt ein
verstaubtes Café betrieben wird. Die Ladenpassage im Basement wurde mit
Aufstellern und Vitrinen so zugepflastert, dass sie nun ein
unübersichtliches Labyrinth ist. Sogar das Flachdach blieb nicht, wie es
war. Auf ihm ist eine graue Baracke gewachsen, die ein an der Fassade
baumelndes Kabel mit Strom versorgt.
Diese Entwicklung wird sicher noch einige Zeit so weitergehen, bis das
Büro- und Geschäftshaus in etwa zehn Jahren komplett verkrempelt ist. In
diesem Moment aber werden Besitzer und Mieter an ihm schlagartig das
Interesse verlieren. Dann wird es einfach abgerissen und durch ein noch
moderneres ersetzt. Dieses Gebäude ist selbstverständlich wieder
schnörkellos und schlicht, und damit beginnt das Spiel von vorne.
Seltsam? Gewiss! Doch so steht es geschrieben, im großen Gesetzbuch der
chinesischen Kultur, die ab und zu wirklich etwas anders ist als in den
Regionen der untergehenden Sonne.
21 Jun 2012
## AUTOREN
Christian Y. Schmidt
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